Der König von Sibirien (German Edition)
Anmeldezettels?«
Alexander war an diesem Abend sehr nachdenklich. Während Nikolai sich mit stauen Verträgen und Papieren beschäftigte, beobachtete der Jüngere ihn heimlich. Was hat er für einen Grund, ausgerechnet mit mir zusammenzuarbeiten? Gibt es nicht genügend andere?
»Nikolai, bist du eigentlich verheiratet?«
Der Sibiriake schob seine Unterlagen zur Seite. »Wie kommst du darauf? Willst du herausfinden, warum ich dich ausgesucht habe?«
»Bist du verheiratet?«
»Meine Frau starb bei einer Geburt.«
»Du hast Kinder«
»Fine Tochter. Dreiundzwanzig. Sie studiert in Nowosibirsk Staatsökonomie.«
»Also keinen Sohn?«
»Nein.«
»Warum ich?«
Nikolai löschte die Schreibtischlampe und rieb sich die Augen. Lange fixierte er einen Punkt an der Wand, und als Alexander schon dachte, er wolle nicht antworten, sagte er zögernd: »Es gibt viele Gemeinsamkeiten zwischen dir und mir. Vielleicht deswegen.«
Aber sosehr Alexander auch drängte, Nikolai blieb verschlossen. Das sei unfair, meinte Alexander. Er, der Ältere, wisse alles über ihn, gebe von sich selbst jedoch nichts preis, bleibe distanziert.
»Ich weiß noch längst nicht alles über dich: deine Jugendzeit,
Militär, Studium, warum man dich wirklich verurteilt und in ein Straflager geschickte hat, wie es dir dort ergangen ist.«
Und als Alexander nicht reagierte: »Nun bist du distanziert. Wir können aber auch mit etwas anderem beginnen, zum Beispiel diesem Anhänger, den du um den Hals trägst. Was ist mit ihm?«
Alexander spielte mit der Kette und der kleinen harten Metall-kapsel, die inzwischen den Lederbeutel abgelöst hatte. Eröffnete sie und nahm etwas heraus.
»Haare. Nur Haare.«
»Von wem?«
»Ein Büschel von Rassul, einem Mitgefangenen, und die von Yo-
kola, dem Ewenken.«
»Willst du mir erzählen, was sie für dich bedeuten:«
Alexander verstaute die Haare wieder. »Ja. Aber erst wenn ich
weiß, welche Gemeinsamkeiten wir haben.-
Eines erfuhr Alexander von Tag zu Tag immer deutlicher: Nikolai liebte dieses Land. Sprach er von bestimmten Regionen, dann wurden seine Gesten heftiger, die Augen glühten, und er begann zu schwärmen. Von Sonnenuntergängen, die er erlebt hatte, oder der Eindringlichkeit und Monotonie eines sibirischen Landregens, der alles aufweichen konnte und ihn auf seltsame Weise froh stimmte. Respektvoll erzählte er vom Winter, von der majestätischen Kälte und beschrieb die Klarheit der Luft, die bei minus vierzig Grad wie ein eisiger Stab in die Lunge eindringe. Übergangslos, als benötigte er ein Ventil für seine Emotionen, begann er manchmal auf Verwaltung und Staat zu schimpfen, die so sorglos mit dem Naturpotential umgingen, als sei es unerschöpflich.
»Nimm den Baikaisee, fünfzig Kilometer von uns entfernt. Vor einigen Jahrzehnten sah ich das blaue Herz Sibiriens, wie ein Dichter ihn genannt hat, das erste Mal. Ich habe damals vor dem Naturereignis gestanden und gebetet, so gewaltig kam es mir vor. Seltsam, mein Verhalten, nicht?«
Alexander zeigte keine Reaktion.
»Ein Einheimischer hat mich angesprochen und gesagt, das sei die Träne Gottes. Und auf meine Frage antwortet er: Als Gott das Land erschaffen hat, fand er es so schön, dass er vor Freude geweint hat.«
»Ich kenne die Fabel.«
Nikolai begann zu schwärmen. Sibirien, das sei Gottes Meister-schöpfung. Wo sonst gebe es so viele Gegensätze? Wo sonst hätten die Menschen die Gelegenheit, sich mit der Natur zu verbünden?
Alexander protestierte. »Mich hat sie beinahe umgebracht.«
»Weil du gegen sie gearbeitet hast. Wer gegen die Natur ist, verliert immer. Du und ich und wir alle, uns braucht Sibirien nicht. Aber wir brauchen das Land. Oder könntest du dir vorstellen, woanders zu leben?«
Alexander konnte es. »In Japan, in Amerika. An vielen Orten.«
Nikolai wusste es besser, so, wie er den Jüngeren anlächelte. »Das dachte ich auch in meiner Jugendzeit. Überall wollte ich hin, nur nicht in meinem Land bleiben. Und jetzt, wo ich überall hin könnte und das Geld dazu habe, bringt mich nichts auf der Welt weg von hier.«
Nikolai ging zu einem Treffen, ohne zu sagen, mit wem. Alexander, der bitte im Motel warten solle, es würde bestimmt nicht lange dauern, kam die Geheimnistuerei übertrieben vor.
Wieder zurück, grinste Nikolai übers ganze Gesicht und legte eine Geburtsurkunde auf den niedrigen Tisch und einen Ausweis. Zögernd griff Alexander danach, unvermittelt weiteten sich seine Augen. Robert
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