Der König von Sibirien (German Edition)
suchte, ich fand meine Mutter und meinen jüngeren Bruder Ilja, er war gerade drei Jahre alt, nicht mehr. Was blieb mir anderes übrig, als mit der Familie des Zuzlo weiterzuziehen? Zuerst ans Schwarze Meer, dann ans Kaspische. Schließlich hatten wir in Kasachstan zwei Jahre Ruhe, aber 1920 ging es weiter in den Osten nach Bijsk. Dort blieben wir bis 1924. Die Auswirkungen der Revolution und Stalins Terror erreichten auch Bijsk, und die Familie des Großgrundbesitzers ging nach Sibirien. Ich löste mich und war plötzlich mit vierzehn Jahren auf mich allein gestellt. Wenn sich eine Chance bot, dann arbeitete ich, um nicht zu verhungern. Ich stahl und war bereit, Menschen umzubringen. Erschreckend traf mich damals die Erkenntnis, dass ich mehr und mehr verrohte und in mir allmählich die primitivsten Instinkte die Oberhand gewannen. Die Zeit verging, irgendwann hörte ich, das war Mitte der dreißiger Jahre, vom >Bund der Rettung< und wanderte nach Mittelsibirien. Ich diente mich hoch, wurde angesehen und galt als einer der geschicktesten Händler und Organisierer. 1940 verhaftete man mich, weil ich auf dem Irkutsker Bahnhof vergessen hatte, einen Offizier zu grüßen, der ein Foto von Stalin auf der Brust trug. Drei der fünf Jahre verbrachte ich in einem Straflager und lernte einen Historiker kennen, der mir nach meiner Flucht eröffnete, wo mein jüngerer Bruder Ilja abgeblieben war. Von meiner Mutter hörte ich nie mehr etwas. Da es auch schon in den zwanziger Jahren üblich war, Kinder in Konzentrationslager einzusperren, brachte man Ilja auf die Solowez-Inseln westlich von Archangelsk. Zufällig erschien 1928 im westlichen Ausland ein Buch, in dem der Autor auf eben dieses Lager und die unmenschlichen Zustände hinwies. Maxim Gorki reiste im Auftrag der Regierung aus dem Ausland an, um der Weltöffentlichkeit zu widerlegen, was man behauptete. Das Lager wurde extra hergerichtet, und Gorki fragte die Häftlinge, ob die Beschuldigungen stimmten. Keiner wagte es, dem Schriftsteller die Wahrheit zu sagen, bis auf meinen damals dreizehnjährigen Bruder. Gorki soll erschüttert gewesen sein, als er das Lager verließ. Einen Tag später war Ilja tot.«
Nikolai schwieg und starrte die Wand an. Mit einer Hand wischte er sich über die Augen. Vor ihm lag ein Foto, das einen Jungen mit geschorenem Schädel zeigte und viele Männer. Unter ihnen der alternde Maxim Gorki, der dachte, er müsse seinem Land einen Dienst erweisen. Letztlich wurde auch er aus Gründen der Propaganda missbraucht.
Alexander musste an den schweigsamen Literaturstudenten Aljoscha denken, der wegen eines Buches über Konzentrationslager in SIB 12 eingesessen hatte.
Nikolai war mit seinen Gedanken entrückt. Nach einer halben Stunde stand er auf und eilte hinaus.
Im Erdgeschoß wartete Minsk, wie man den Vertrauten Nikolais wegen seiner Herkunft nannte, auf Alexander. »Wie fühlt er sich?« fragte Minsk. »Er trauert.«
»Ja, er trauert immer noch. Die Trauer wird nie enden.«
Minsk führte Alexander in das Kaminzimmer und eröffnete ihm, dass er Nikolai inzwischen dreißig Jahre kenne, seit ihrer gemeinsamen Flucht aus einem Lager in unmittelbarer Nähe der Stadt Magnitogorsk. Dort sei es bestialisch zugegangen. Selbstverstümmelungen hätten auf der Tagesordnung gestanden, nur um in die Krankenstation verlegt zu werden. Aus dem gleichen Grund brachten sich die Häftlinge Infektionen bei, indem sie Dreck in Wunden rieben oder verfaulte Essensreste. In einem Winter sei es sogar zu Kannibalismus gekommen. Aus Hunger habe man in einer Nachbarbaracke einen Mithäftling, den man einfach ausloste, getötet und aufgegessen.
»Hast du das gleiche erlebt?« wollte Minsk wissen.
»Ja, bis auf Kannibalismus.«
»Und die Selbstverstümmelungen?«
»Kamen auch vor.«
»Einer meiner Leidensgenossen hat sich ein Seil um Penis und Hoden gebunden, es an der Klinke befestigt und dann wie am Spieß geschrieen. Die Wärter rissen die Tür auf und dem armen Kerl Eier und Schwanz ab. Er wollte nur in die Krankenstation. Dort ist er gestorben.«
Minsk schenkte Wodka ein, Alexander trank das Glas leer.
»Wie konnte Nikolai das die ganze Zeit aushalten?«
»Weil er zu hassen gelernt hat. So wie du.«
Minsk erwähnte, dass er und Nikolai sich auf der Flucht hatten trennen müssen. Nikolais einzige Chance sei gewesen, auf einen fahrenden Zug zu springen, und das mitten im Winter.
»Wie ich«, bemerkte Alexander erstaunt.
Minsk nickte. »Seltsam, dass sich die
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