Der König von Sibirien (German Edition)
gleichen ungewöhnlichen Dinge Jahrzehnte später wiederholen können. Wirklich seltsam.«
»Aus welchem Anlass ist Nikolai auf mich aufmerksam geworden?«
»Durch die Art, wie du mit unserem Tolkatsch um die Schläuche gefeilscht hast, und wegen deiner Lebensgeschichte.«
Alexander schaute in das zart wirkende Gesicht von Minsk. »Er muss doch einen Grund gehabt haben, mit mir ... sich auf mich ...«
Minsk nickte. »Nikolai tut nie etwas ohne Grund.«
»Bitte, verrate ihn mir.«
»Du sollst sein Nachfolger werden.«
»Ich ...« Alexander sprang auf und stellte sich ans Fenster. Er kühlte seine Stirn an dem kalten Glas und versuchte seine Gedanken zu ordnen. Das war es also. All seine Fragen, die sich in ihm aufgestaut hatten, wurden mit einem Schlag beantwortet.
»Ich sein Nachfolger«, murmelte er. »Es gibt so viele.« Und zu Minsk gewandt: »Warum gerade ich?«
Minsk lächelte. »Ich sagte es bereits, weil du ihm ähnlich bist und mit dem Leben gespielt hast. Seit er von dir gehört hatte, stellte er Nachforschungen an, und sein Wunsch wurde immer stärker. Während deiner Eskapaden mit dem Amerikaner hatte er wahrscheinlich mehr Angst um dich als du selbst. Wie du dann auch noch von der Lokomotive gefallen bist ...«
»Moment, davon konnte er doch nichts wissen.«
»Deine einzige Chance, so erklärte Nikolai, als er hörte, dass die Miliz den Zug durchsucht hatte, sei die Lokomotive. Vielleicht hat er es sich auch nur gewünscht?«
»Weshalb hat Nikolai überhaupt am Bahnhof gewartet?«
»Man hat ihn über alles unterrichtet, an dem bewussten Tag wollte er mit dir sprechen.«
Alexander wanderte im Raum umher, die Teppiche dämpften seine Schritte. »Warum braucht er jetzt schon einen Nachfolger? Nikolai ist doch noch rüstig und bei bester Gesundheit.«
»Nein.« Minsk stellte sich ihm in den Weg. »Nikolai hat noch ein Jahr zu leben. Höchstens. Ohne dich und die Hoffnung wäre er wahrscheinlich schon tot.«
Im Gesicht des Älteren erkannte Alexander Niedergeschlagenheit. »Du willst mich beeinflussen, damit ...«
Minsk unterbrach ihn mit harter Stimme. »Nichts will ich. Nikolai leidet an Leukämie. Damals bei dem Überfall auf die Lkw ist auch sein Medikament gestohlen worden. Er konnte es sich zwei Wochen später wieder in England besorgen, aber das war für ihn ein deutlicher Hinweis, dass seine Zeit abgelaufen ist. Und du wirst sein Nachfolger.«
Minsk sagte das mit einer solchen Bestimmtheit als gäbe es überhaupt keinen Zweifel.
Alexander ließ sich in einen Sessel fallen »Ich bin völlig verwirrt.«
Minsk erzählte, wie es Nikolai geschafft hatte, Sprecher des Bundes zu werden. »Es gab noch einen Gegenkandidaten, und dem Rat fiel es schwer, sich zu entscheiden. Aber Nikolai wollte unbedingt Sprecher weiden, weil er von sich und seinen Ideen überzeugt war. Die Entscheidung zog sich jedoch hin, alle trafen sich zu einer letzten Versammlung. Plötzlich und unerwartet bekam Nikolai heftige Leibschmerzen. Ein Arzt diagnostizierte eine akute Blinddarmentzündung. Die Sehmerzen wurden schlimmer, und der Mediziner meinte, der Blinddarm müsse unbedingt heraus. Nikolai forderte den guten Mann auf, ihn auf der Stelle zu operieren. Und das tat er dann auch, und zwar ohne Betäubung. Draußen auf dem Gang standen die zehn Stellvertreter und warteten auf einen Schmerzensschrei. Sie hörten keinen. Das war der Grund, warum Nikolai gewählt worden ist.«
»Ohne Betäubung?«
Minsk nickte. Alexander begann sich unwillkürlich mit Nikolai zu vergleichen und fragte sich, ob auch er dazu in der Lage gewesen wäre. Damals, das mit dem Schienbeinbruch im Lager SIB 12. Diese Schmerzen, so meinte er, seien denen von Nikolai bestimmt sehr nahe gekommen. Nicht zu vergessen die Vergewaltigung und das Messer in seinem Handrücken.
Als er aufschaute, sah er in Minsks spöttisches Gesicht.
»Nikolai wollte unbedingt Sprecher des Bundes der Rettung werden.«
Minsk nickte, der Spott blieb.
»Und er hat überhaupt keine Blinddarmreizung gehabt.«
Erneut nickte Minsk. »Der .Arzt hat sich sehr gewundert, wo die Schmerzen herkamen. Aber da hatte man Nikolai schon gewählt.«
Nikolai bat Alexander zu einem gemeinsamen Frühstück, er hätte mit ihm zu reden. Als sie sich gegenübersaßen, ließ er sich jedoch Zeit. Außer einem kurzen Gruß sagte er lange kein Wort. Schließlich erkundigte er sich nebenbei, wie er geschlafen habe. Verdammt schlecht, gestand Alexander. Nikolai meinte, warum solle es ihm
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