Der König von Sibirien (German Edition)
verstorbenen Mutter und aus dem Ordner, Nikolais Weihnachtsgeschenk.
»Katharina II. rief 1763 die Deutsehen ins Land, damit sie es urbar machten und bestellten und die Siedler zugleich als Bollwerk gegen die Tataren dienten. Dreißigtausend, meist aus Südwestdeutschland, wanderten in den Folgejahren ein, gründeten Siedlungen und Tochterkolonien bis zum Ural und in der Ukraine. Zwischen dem Ersten Weltkrieg und 1940 war die Zahl der Deutschstämmigen auf etwa 1,5 Millionen angewachsen, trotz der Hungersnot 1921/22 und der Zwangskollektivierung zehn Jahre später. Bis Ende 1941, der Vertreibung durch Stalin nach Hitlers Überfall, schrumpfte die Anzahl durch Verschleppung und Pogrome enorm.«
Eine Million seien in den Osten umgesiedelt worden, führte Alexander weiter aus, überwiegend nach Westsibirien, Kasachstan, Kirgisien und dein Altaigebiet. Viele seiner Landsleute hätten ihr Leben lassen müssen, auf weit mehr als dreihunderttausend lauteten die Schätzungen, darunter auch seine leibliche Mutter. Außerdem wurden 100000 Deutsche in den besonders harten Dienst der Trudarmija, der Arbeitsarmee, gesteckt, die bis 1947 bestanden habe.
Auch auf die politische Entwicklung ging Alexander kurz ein. Mitte der zwanziger Jahre habe man den Deutschen erlaubt, innerhalb der Russischen Sozialistischen Föderativen Sowjetrepublik, RSFSR, eine autonome deutsche Wolgarepublik zu gründen. Zu Beginn des Großen Vaterländischen Krieges, 1941, seien die Hitlerspione, wie man die Wolgadeutsehen nun nannte, in den Osten vertrieben worden, 1945 erfolgte die Auflösung der Wolgarepublik, und 1964, kurz nach Chruschtschows Absetzung, die Rehabilitierung. Allerdings sei sie nicht mit dem Recht auf eine eigene autonome Republik verbunden gewesen.
»Das ist in kurzen Worten die Geschichte meiner Vorfahre, oder soll ich sagen: meines Volkes.«
»Weißt du, dass ein ehemaliger Volkskommissar der Wolgadeutschen Republik, Ernst Reuter, nach dem Krieg Oberbürgermeister von Berlin geworden ist?«
»Noch nie davon gehört.«
»Und von der Berlinblockade?«
Alexander überlegte. »Damals wollten die Amerikaner Berlin zum militärischen Stützpunkt ausbauen.«
Larissa winkte ab. »Alles Geschwätz.« In wenigen Sätzen beschrieb sie ihm die wahren Hintergründe. »Damit du weißt, was in deiner Urheimat vorgeht. Fühlst du dich eigentlich als Deutscher?«
»Wie müsste ich mich da fühlen?«
Larissa zählte auf: »Nun, sie sind arbeitsam, rechtschaffen, ehrgeizig, strebsam. Schau dir doch nur Westdeutschland an, was man dort wieder auf die Beine gestellt hat.«
Sie gingen auf die Zimmer, jeder in seines. Alexander konnte lange nicht einschlafen. Larissa beschäftigte ihn, und er fragte sich, warum Nikolai ihn gebeten hatte, ihr nichts von den Ereignissen am Saunatag, von der Bestrafung des Verräters zu erzählen. Etwa aus Angst, seine Tochter könnte ihn nicht verstehen?
»Alexander, wenn jemand nur noch so kurze Zeit zu leben hat wie ich, dann hofft er, dass all seine Wünsche sich erfüllen.« »Welche hast du?«
»Dass mein Lebenswerk fortgeführt wird.«
»Schließt das auch den Hass auf Gogol und seinen Sohn mit ein?«
Nikolai ließ sich Zeit mit der Antwort. »Wenn ich davon ausgehe, dass Gogol mich genauso hasst wie ich ihn, dann kann ich ihm am meisten schaden, indem ich sterbe. Wo soll er dann noch hin mit seinem Hass?«
»Er hat deinen Vater erschossen, du warst Zeuge. Warum hast du ihn nicht auch erschossen?«
»Weil ich mir seinen Vater gegriffen habe. Außerdem bin ich überzeugt, inzwischen weiß er, dass ich es war. Demnach hätte er das gleiche Recht wie ich.«
Nikolai legte es wieder einmal darauf an, zu ergründen, welch ein Mensch Alexander war, was er fühlte und was er dachte. Er wollte Dinge aus Alexanders Kindheit erfahren, möglichst Vorfälle, die ihn geprägt oder zumindest beeindruckt hatten.
»Gibt es auch in deinem Leben Wünsche, die du gerne erfüllt sähst?«
Alexander überlegte lange. Da er Larissa bereits von Hellen erzählt hatte, gab er zu: »Ja, ich möchte eine Frau wieder sehen, die mir sehr viel bedeutet.«
Durch seine folgende Bemerkung zeigte Nikolai, dass er wusste, von wem Alexander sprach. »Kein Problem. Du kannst nach Deutschland reisen. Ich organisiere das.« Und nach einem Blick in Alexanders Gesicht: » Welchen Wunsch hast du noch?«
»Eigentlich dürfte ich es mir nicht wünschen, denn er hat meine Mutter verlassen und sich zu Beginn des Krieges einfach verdrückt.
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