Der König von Sibirien (German Edition)
mögen und sich zurückziehen, weil der Profit ausbleibt, sich das politische Klima abgekühlt hat oder wir die Dinge anders angehen wollen, lassen sie uns auf halbfertigen Kombinaten und gerade angelegten Bohrplattformen sitzen. Ich habe Angst vor der Abhängigkeit.«
»Weil sie wirklich existiert, oder weil du zu sehr als Verantwortlicher denkst und fühlst?«
Nikolai schlug die Beine übereinander. »Vielleicht sehe ich die Lage zu krass, da ich ein Sibiriake bin, mich die Umstände dazu gemacht haben. Sicherlich nicht ganz zu Unrecht fühlen sich die Einheimischen auserwählt als eine Elite, die Natur und Kälte, Arbeitswillkür und Polizeiterror trotzt. Sie kümmern sich nicht um die Partei, das weiß man in Moskau. Politik interessiert die Sibiriaken nur mäßig, sie äußern sich frei über die Bürokratie, und wenn sich Volkskommissare oder Revisoren anmelden, sind sie einfach nicht anzutreffen. Hier gibt es keine Parteidiktatur, und akzeptiert wird nur, wer etwas von der Sache versteht, Sibirien macht frei.«
»Wenn Sibirien frei ist, warum dann die vielen Frauen an der Transsib, die mit Gewehren bewaffnet Brücken und Bahnhöfe kontrollieren? Oder die vielen Hilfsmilizionäre mit den roten Binden am Arm, die die Passanten überprüfen und nach dem Ausweis fragen? Dann diese Druschinniki, der verlängerte Arm Moskaus. Sie sperren Stadtteile und Straßen ab, verhindern die Durchfahrt zu einer Ortschaft und spielen Polizei.«
Nikolai umfasste Alexanders Handgelenk. »Das alles sind Zeichen dafür, dass der Staat Angst vor der eigenen Bevölkerung hat, er selbst mit der Freiheit des Landes nichts anfangen kann. Glaube mir, allein an seiner Angst wird unser Staat kaputtgehen, weniger an den sogenannten ausländischen Feinden. Angst und Misswirtschaft, ein gefährliches Paar.«
Nikolai und Alexander gingen auf Reisen, um einzelne Tolkatschi und gute Freunde zu besuchen. Mit Flugzeug, Hubschrauber und Auto waren sie unterwegs. Alexander erkannte sofort: Nikolai wollte sich verabschieden, noch einmal durch sein Sibirien ziehen, sich dem rauen Charme des Landes hingeben und sich bei ihm bedanken. So formulierte er es später.
Nikolai zeigte Alexander Fisch-und Lebensmittelfabriken, eine lag weit abseits am Rande des Pazifiks. Holzfäller lernte er kennen, deren Hände von einer zentimeterdicken Schwielenschicht bedeckt waren, und Bahnarbeiter, die immer noch auf den offiziellen Startschuss zum Bau der BAM warteten. Sie besichtigten eine Pelzsammelstation in Ulan-Ude und wurden Zeuge, wie man den Ertrag eines Winters en bloc an den Meistbietenden, einen Händler aus der Mongolei, der bar bezahlte, verkaufte.
Sie suchten Rentierzüchter auf, die ihre Winterquartiere, feste Lehmhütten mit Dächern aus Reisig und Moos, verließen und sich auf den Weg in ihr Sommerlager machten. Überall war Nikolai herzlich willkommen. Er wurde um Rat gefragt, und man erwartete von ihm einen Kommentar zur Rechtsprechung, wenn man ihn bat, bei einer Verhandlung zugegen zu sein.
Nikolai zog sich geschickt aus der Affäre. Er billigte die Methoden, ohne sie gutzuheißen.
»Weil ich mich nicht in Dinge einmische, die mich nichts angehen«, lautete am Abend seine Rechtfertigung gegenüber Alexander.
»Und dass sie heute einen gefesselt und nackt bis zum Bauch in ein Eisloch eingebuddelt haben?«
Nikolai zuckte nur mit der Schulter. »Sie tun es seit Jahrhunderten. Außerdem war es nur für eine halbe Stunde.«
»Aber mit Erfrierungen, weil er Holz gestohlen hat.«
Nikolai erwartete nicht, dass Alexander die Einheimischen verstand. »Immer noch besser, als ihm die Hand mit Benzin zu übergießen und anzuzünden, wie es noch oft gemacht wird.«
Alexander sah den Älteren mit gerunzelter Stirn an.
»Oder, wenn jemand die Frau eines anderen raubt und vergewaltigt, ihn im Winter in einem Fluss bis zur Brust einfrieren zu lassen, einen Eimer mit Petroleum bereitzustellen und Feuer. Natürlich kommt dir das hart vor.«
Als Alexander nichts entgegnete: »Auch das, mein Lieber, ist Sibirien. Du warst dich mit den Gegebenheiten abfinden müssen, ändern kannst du sie sowieso nicht. Einen Rat aber gebe ich dir, Robert: Versuche nie, dich in die Rechtsauffassung und Rituale der Naturvölker einzumischen, das ist allein deren Sache.«
»Aber, was die Auslegung betrifft, doch sehr unmenschlich.«
Nikolai lachte hart. »Hast du schon vergessen, wie man dich behandelt hat? Der angeblich zivilisierte Staat dich behandelt hat? So etwas
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