Der König von Sibirien (German Edition)
Aber ich würde gerne meinen richtigen Vater kennen lernen , falls es ihn überhaupt noch gibt.«
Das Frühjahr. Die Tage wurden länger, die Sonne kräftiger, der Schnee zog sich zurück. Die Taiga erwachte, die Menschen erwachten, als hauchte ihnen die Sonne immer wieder aufs Neue ein Quäntchen Leben und Wärme ein.
In Nikolais Jagdhütte am Oberlauf der unteren Tunguska, anderthalb Autostunden von Kirensk entfernt, verriet ihm der Sibiriake, dass er, seit er diese Hütte besitze, noch kein Tier geschossen habe. Er schaue ihnen zu, er folge ihren Fährten, und er lege auch an. Aber abdrücken, das habe er nie können, dazu schienen sie ihm zu sehr eins zu sein mit der Natur.
»Dann erkläre mir doch bitte einmal, wo die vielen Felle hier herkommen.« Alexander deutete auf die Wände und auf den prächtigen Pelz eines riesigen Braunbären gleich vor dem Kamin.
»Geschenke alles Geschenke. Die meisten stammen von den Jakuten.«
Wieder einmal wurde Alexander Zeuge, wie tief verwurzelt Nikolai mit seiner Heimat war. Er machte kein Hehl aus seinen Gefühlen, als wollte ei bewusst einen tiefen Einblick in sein Innerstes geben, und gestand dem Jüngeren, dass er dem Land sehr viel verdanke. Weil es ihn geprägt habe und ihn erkennen ließe, dass Nichtigkeiten den Blick fürs Wesentliche versperrten. »Die Natur ist das Wesentliche, war sind nur Gäste.«
Sibirien, begann Nikolai, da Alexander schwieg, sei nicht nur klirrende Kälte, menschenfeindliche Leere und das größte Gefängnis der Geschichte, mit Plennis, vom Fleckfieber verseucht, durch Zwangsarbeit erschöpft und hinter Stacheldraht eingepfercht. Nicht nur Einsamkeit, Tundra und Taiga, Kälte und Mücken, Hunger und Deportation. Sibirien sei Hoffnung, eine Fülle der Natur, Rohstoffe im Überfluss, ein unerschöpfliches Reservoir für die Industrialisierung. Mehr und mehr rauchende Schlote und Kombinate, die die Materialien verarbeiteten. Mehr und mehr Menschen in Städten, die das Land besiedelten und sich mit ihm arrangierten.
»Um unsere Zukunft mache ich mir keine Sorgen. Bei uns in Sibirien gibt es mehr Kohlevorkommen als auf der restlichen Erde und Eisenerz in einer Größenordnung, über die keine andere Nation verfügen kann. Dazu Reserven an Erdöl und Erdgas, ergiebiger als im Nahen Osten, und die Hälfte des Weltvorrats an Holz. Nicht zu vergessen die schier unerschöpfliche Wasserkraft unserer Flüsse und seltene Metalle wie Gold, Platin, Wolfram, Molybdän, Nickel, Kupfer.«
Nikolai erhob sich, ging zu einem Regal und kam mit einem rostroten, faustgroßen Klumpen zurück. »Schau dir das mal an.«
Alexander wog das Material in den Händen, es war wesentlich schwerer als normales Gestein. »Erz, nicht?«
»Eisengehalt knapp siebzig Prozent, das findest du, wenn ich recht informiert bin, sonst nirgends auf der Welt. Aber in unserem natürlichen Reichtum liegt auch die Gefahr.«
Alexander betrachtete den gezackten Brocken von allen Seiten. »Dass man nicht sorgfältig mit all den Ressourcen umgeht? Die Umwelt missachtet, das Land bedingungslos ausbeutet, zum Fortschritt des Sozialismus? Ist es das, was du meinst?«
»Ja. Außerdem wird Sibirien mehr und mehr zum Tummelplatz unterschiedlichster Interessen. Verstehen kann ich die Menschen schon, die hierher kommen, um unter harten Bedingungen zu arbeiten. Sie wollen die Vergünstigungen genießen, den höheren Lohn, das Mehr an Urlaub, die Freifahrten in den Westen der Union und den um fünf Jahre vorgezogenen Ruhestand, falls sie fünfzehn Jahre ausgeharrt haben. Einen weiteren attraktiven Punkt darf man nicht vergessen: Hier hei uns dauert die Warte-
zeit für ein eigenes Auto nur drei Jahre.«
»Welche unterschiedlichen Interessen meinst du?«
Nikolai stocherte im Kamin und ließ sich Zeit mit der Antwort. Erst als er sich wieder hingesetzt hatte, entgegnete er: »Wir, ich meine die sowjetische Wirtschaft, ist nicht in der Lage, die Erschließung ohne ausländische Hilfe anzugehen.«
»Du mit deinen Tolkatschi willst also das Manko ausgleichen«, warf Alexander spöttisch ein.
Nikolai reagierte nicht auf die Provokation. »Aus vielen Staaten importieren wir das technische Know-how, die Maschinen und vor allem die Experten. Deshalb müssen die Interessen der Franzosen, Deutschen und Japaner berücksichtigt werden, die uns ihr Wissen und ihr Geld zur Verfügung stellen. Ausländer erhalten ein Mitspracherecht, wodurch wir uns ihnen zum Teil ausliefern. Falls sie das Land nicht mehr
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