Der König von Sibirien (German Edition)
Als sie bei ihm war, erkannte sie, er war tot. Sein Gesicht wirkte gelöst und zufrieden, als sei nun endlich alles ausgestanden. Alexander schloss Nikolai die Augen und trug ihn in die Hütte. Er war leicht, viel leichter, als er dachte. Die Krankheit hatte ihm doch sehr zugesetzt.
Noch in derselben Woche beerdigten sie Nikolai nicht weit hinter seinem Haus in Kirensk auf einer Anhöhe, damit er sich Sibirien anschauen konnte.
Viele Trauergäste fanden sich ein. Etwas abseits stand eine große Gruppe von Jakuten in ihrer bunten Nationaltracht, unter ihnen war auch Geriak, über den sich Nikolai so aufgeregt hatte. Von der damaligen Beharrlichkeit, die alten Rituale wieder aufleben zu lassen, war nichts mehr zu spüren. Im Gegenteil, Geriaks Augen baten stumm um Vergebung. Aber er entschuldigte sich nicht.
»Ich möchte, dass du mein Volk kennenlernst, vielleicht verstehst du dann auch mich«, sagte er mit Würde, als er Alexander kondolierte.
Nikolai wurde räch katholischem Brauch beerdigt. Der Priester sprach einige Worte am offenen Grab, langsam ließ man den Sarg hinab. Die Trauernden warfen Sand auf den Sarg, die Jakuten Felle und Nahrungsmittel, darunter auch Zigaretten und Wodka.
Larissa drückte ihren Schmerz auf ihre Art aus. Sie setzte sich an den Flügel. All ihre Emotionen und Gefühle kamen zum Vorschein, und wenn sie Ravels Bolero, Nikolais Lieblingsstück, spielte, liefen ihr Tranen über die Wangen. Alexander saß stumm daneben und hörte zu. Stets aufs Neue war er, der von Musik keine Ahnung hatte, erstaunt, was man durch sie alles auszudrücken vermochte.
Oft spürte Larissa das Bedürfnis, von ihrer Kindheit zu erzählen. Sie wundere sich heute noch, wie es ihr Vater angestellt habe, ihr die Mutter zu ersetzen. Gelungen sei das wohl nur, weil er ihr das Gefühl habe vermitteln können, allein für sie da zu sein. Kein leichtes Unterfangen bei den vielen Verpflichtungen, die er damals schon hatte.
»Auf Reisen nahm er mich mit, und als Sechs-oder Siebenjährige war ich bei vielen Gesprächen dabei. Vater meinte, ich sei es gewesen, die oft ein schnelles Ergebnis herbeigeführt habe, weil ich nach einer gewissen Zeit zu quengeln begann, spielen wollte oder auf seinem Schoß herumturnte.«
Larissa geriet ins Schwärmen, als sie Alexander von bestimmten Begebenheiten erzählte. So habe ihr Vater in ihr eine große Motivation freigesetzt, sich für Land und Leute und Natur einzusetzen. Aber er sei auch der Ansicht gewesen, bei allem Engagement dürfe man sich nicht selbst aus den Augen verlieren. »Nikolai war auf seine Art sehr sozial und trotzdem ein Egoist. Er hat nur das getan, von dem er überzeugt war. Bei allen Geschäften musste ein respektabler Gewinn für ihn herausspringen. Weißt du, wie sein Lebensprinzip lautete?«
»Nein.« Alexander konnte es sich jedoch denken.
»Sorge dafür, dass es dir gut geht, erst dann bist du in der Lage, es auch anderen gut gehen zu lassen.«
Unvergesslich für Larissa war eine Weihnachtsmesse nach russisch-orthodoxem Ritus, an der sie teilgenommen hatte. Die andächtige Atmosphäre, der Weihrauch, die festlich geschmückte Kirche, dazu die prunkvoll gekleideten Priester und erst die Stimmen: Noch nie habe sie so einprägsame Stimmen gehört. Besonders ein Bass, der die ganze Kirche zum Schwingen gebracht habe und von einer Tiefe, als käme er aus dem Mittelpunkt der Erde.
Alexander hörte nur zu. Viele Stunden hörte er zu, denn er merkte, dass Larissa über ihren Vater sprechen musste.
Und als sie geendet hatte, lehnte sie sich an ihn und legte seine Hand auf ihren Unterleib. »Wenn es ein Junge wird, nennen wir ihn dann Nikolai?«
»Ja, er soll Nikolai heißen.«
IV
LARISSA
Der Tod, das war Ende und Neubeginn zugleich. Für Alexander zumindest ein geschäftlicher Neubeginn, weil er nun für alles verantwortlich war und Nikolai nicht mehr um Rat angehen konnte. Der Sibiriake würde ihm sehr fehlen, und nicht zum erstenmal fragte sich Alexander, wie er wohl ohne ihn zurechtkommen würde.
Minsk, Nikolais Vertrauter, suchte ihn auf und wollte sich von ihm verabschieden.
»Warum willst du gehen?«
»Ich bin alt.«
»Nicht älter, als Nikolai war.«
»Du brauchst mich nicht mehr.«
»Doch. Bitte bleibe.«
Unschlüssig sah ihn der Ältere an.
»Auf deine Erfahrung möchte ich nicht verzichten.«
»Du schaffst das schon allein.«
»Minsk, wir haben eines gemeinsam. Wir sind die einzigen, die mit Nikolai das Kraut der Bruderschaft
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