Der König von Sibirien (German Edition)
alte System?«
Leonid verneinte. »Weiß Gott nicht. Aber es wird immer wieder Interessengruppen geben, um es einmal so auszudrücken, die die Instabilität eines Staates, der sich im Wandel befindet, für sich ausnutzen wollen.«
»Wie lange währt deiner Meinung nach diese Phase?«
Leonid wusste es nicht.
»Und wir strampeln uns hier ab wie die Verrückten. Dabei wissen wir nicht, was noch alles auf uns zukommt, wer demnächst in Moskau das Sagen hat.«
»Willst du den Schwanz einziehen?«
Es dauerte lange, bis Alexander antwortete. »Nein.«
Abenteurer suchten schon seit jeher aus den unterschiedlichsten Gründen Sibiriens Weite auf, viele nur, weil sie sich von ihr herausgefordert fühlten. Für diejenigen, die sich verstecken wollten oder mussten, boten sich ebenfalls günstige Möglichkeiten, einen falschen Namen anzunehmen und in der grenzenlosen Landschaft unterzutauchen. Neu hinzu kamen in jüngster Zeit viele zwielichtige Personen und Wirtschaftsverbrecher, darunter auch Ausländer, die das Blaue vom Himmel versprachen und schlichtweg nur auf der Suche nach dem goldenen Kalb waren. Alexander und Leonid beobachteten diese Entwicklung mit Besorgnis, die besonders die Großstädte erfasste und geradezu überrollte. Jeder schien auf der Jagd nach dem großen Geld zu sein.
Gleichzeitig lechzte das Land nach Freiheit und nahm Gorbatschow als neuen Hoffnungsträger und Helden an. Er reiste durch die Republiken, und was er versprach, gab den Menschen wieder Mut. Merklich baute er, misstrauisch beobachtet von den Militärs im eigenen Lande, die nicht müde wurde, die Gefahr heraufzubeschwören, die Spannung zum Erzfeind USA ab. Die Sowjetunion wurde im Ausland anerkannt und nicht mehr als der waffenstarrende rote Angstgegner betrachtet. Wenn jetzt auch noch die Versorgung besser werden würde, die Bevölkerung endlich ihre Konsumwünsche befriedigen könnte ... Siebzig Jahre Enthaltsamkeit seit der Revolution waren lange genug.
Aber im Land gärte es. Und wie es nun einmal in einer Demokratie seit jeher üblich ist, begann man plötzlich in der UdSSR zu streiken - bisher war das ein Unding und kam einem Staatsverbrechen gleich -, um sich bessere Bedingungen zu erzwingen. Unvermittelt im Interesse der Weltöffentlichkeit stehend, nutzten viele der Werktätigen die Gunst der Stunde und nahmen Gorbatschow und seine Perestroika beim Wort. Ein legitimes Recht, wenn dafür die Instrumentarien einer freien Gesellschaft, die sich im Laufe von Jahrzehnten hatte bilden können, zur Verfügung stünden. Aber Streiks im Sozialismus waren mehr als nur Faustschlage in das Gesicht des Regimes, dessen Ideologie solche Interessenkonflikte und Ausbrüche nicht vorgesehen hatte. Der hohe Anspruch der verordneten Volksbeglückung meldete dafür keinen Bedarf, folglich hatte es im Sozialismus laut Plan auch keine Unzufriedenen zu geben. Und dann auch noch den Staat durch Streiks erpressen - wie verwerflich und westlich dekadent!
Exakt an diesem Punkt erkannte Alexander die Gefahr. Wie konnte durch Arbeitsniederlegungen etwas erzwungen werden, wenn es nichts zu erzwingen gab? Die Forderung nach mehr Lohn und nach besseren sozialen Einrichtungen war nur zu erfüllen, wenn man gleichzeitig andere Bevölkerungsgruppen, die sich nicht wehren konnten, benachteiligte. Das Ganze lief auf eine Umverteilung hinaus, ohne dass das Angebot oder die Wertschöpfung gesteigert wurde. Im Gegenteil, es waren Tendenzen zu erkennen, wonach die Gesamtproduktion zu sinken begann. Oder veröffentlichte man möglicherweise zum erstenmal die richtigen Zahlen?
Die größte Machtprobe des Reformers Gorbatschow war der Streik der Bergarbeiter im Kusnezker Kohlenbecken im Kusbass. Je tiefer der Stollen, desto höher die Normen, so lautete die Beschwerde der Kumpels, die endlich eine bessere Versorgung mit dem Lebensnotwendigsten anstrebten. Dazu forderten sie mehr Lohn, um nicht nur Suppenfleisch, das Kilo zu zwei Rubel, zu kaufen, sondern auch den Rinderbraten für fünf. Mehr als zweihunderttausend Kusbass-Kumpel mit Schwerpunkt um Meschduretschensk, dort wurde die wertvollste Kokskohle der Welt abgebaut, legten die Arbeit nieder. Allerdings war das Problem nach Ansicht aller Experten unlösbar. Der Selbstkostenpreis für die Kohle betrug 43 Rubel, der Staat bezahlte als Garantie aber nur zwölf Rubel. Dabei könnte man auf dem Weltmarkt 60 Dollar erzielen.
Ausführlich schilderte Rudolf Scherbo die Lage. Er sei im Auftrag des Streikkomitees nach
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