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Der König von Sibirien (German Edition)

Der König von Sibirien (German Edition)

Titel: Der König von Sibirien (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Edwin Klein
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feilschten. Es gab keine langen Schlangen wie vor den staatlichen Bäckerläden oder den Tankstellen, die Probleme hatten, die Benzinversorgung sicherzustellen. Aber der Handel funktionierte. Überteuert zwar und ohne das rechte Gefühl für den realen Marktwert - ein Durchschnittsverdiener hatte für eine Tafel Schokolade zwei Monatslöhne hinzulegen - wechselte die Ware den Besitzer. Bezahlte jemand in Rubel, dann akzeptierte sie der Verkäufer nur zu Mondkursen, um der galoppierenden Inflation und der rapiden Geldentwertung zuvorzukommen.
    Je länger Alexander durch Moskau wanderte, immer deutlicher die Kluft zwischen Arm und Reich vor Augen geführt bekam, desto betrübter und resignierter wurde er. Am Tischinski-Markt harrten ältere Frauen, den Kopf schamhaft gesenkt, bis tief in die Nacht in der Hoffnung aus, leere Cola-Dosen, Einmachgläser, Schnürsenkel und gebrauchte Zahnbürsten verkaufen zu können, um sich ein paar Rubel dazuzuverdienen.
    Die Obdachlosen in unmittelbarer Nachbarschaft des Kreml, eine Ohrfeige für den Sozialismus, sie hausten in einem Wust aus Dreck und Abfall und schliefen in einem mit Zeltplanen oder Plastik überspannten Holzverschlag. Ihr ganzes Hab und Gut bestand aus einem Koffer, daran erkannte man die Bessergestellten, oder aus einigen Plastiktüten.
    Auf dem Roten Patz, dort waren die skurrilen Züge des Niedergangs am deutlichsten, fielen ihm neben den Touristen besonders die Veteranen auf. Nicht nur, dass etliche von ihnen im Rollstuhl saßen oder auf Knicken gingen, sie hatten sich auch all ihre Orden an die Brust geheftet, die sie mehr oder weniger stolz vor den Kameras der Westler oder Japaner präsentierten. In Gruppen standen sie zusammen: Hier die grauhaarigen, gebeugten Alten aus dem Zweiten Weltkrieg mit den patriotischen Parolen der Sieger auf den Lippen, etwas weiter weg die schweigsamen, wesentlich Jüngeren aus Afghanistan, die letzten unangenehmen Zeugen eines verlorenen Krieges.
    Schon am Vormittag hatte Alexander gemerkt, dass er einen ganz bestimmten Bereich nahe dem Marx-Prospekt ausklammerte. Obwohl mittlerweile viel Zeit vergangen war, gehörte immer noch eine gewisse Portion Mut dazu, das Hotel National zu betreten, die Stätte, wo für ihn alles begonnen hatte: Liebe und Leid.
    Drinnen schien die Zeit stehengeblieben zu sein. Alles war etwas älter, noch etwas mehr abgewetzt, lediglich der Bodenbelag war ein anderer.
    Da Alexander in Westgeld zahlte, gab man ihm sofort ein Zimmer. Leider sei 416 belegt. Ob es 415 sein dürfe?
    Alexander war einverstanden. In 415 stellte er sich vor die Verbindungswand zum Nebenzimmer. Dort war vor mehr als fünfundzwanzig Jahren ... achtundzwanzig, um genau zu sein ...
    Alexander setzte sich auf das Bett und starrte die Wand an. Sein Blick ging hindurch, er sah Schrank, Stuhl, den Sekretär und vor dem Fenster die beiden zerschlissenen Sessel. Und das Bett hatte gequietscht.
    Mit einem Aufstöhnen ließ er sich nach hinten fallen, schloss die Augen und tauchte ein gutes Vierteljahrhundert zurück. Die dünne Bettdecke, der warnte Körper neben ihm, das Tip-Tip des tropfenden Wasserhahns. Anschließend der Spaziergang durch Moskau mit der Wachablösung vor dem Lenin-Mausoleum. Am anderen Morgen die Pressekonferenz in der Hotelhalle, der schmerzvolle Abschied, seine Verhaftung und dann der unendlich lange Leidensweg, der immer noch nicht beendet zu sein schien.
    Alexanders Gedanken, die sich aufmachten, um in der Weite Sibiriens zu verschwinden, fanden wieder zu Hellen. Das war angenehmer und vermittelte ihm ein schöneres Gefühl, obgleich sich Trauer und Wehmut darin mischten.
    Die Bilder wechselten sich ab. Larissa sah er vor sich, die beiden Kinder. Und abermals Hellen. Dann Rassul, Nikolai, eben seine private Welt. Dazu kamen noch Klimkow und Leonid. Ja, so klein war seine Welt. Im Zimmer des Hotels National reduzierte sie sich auf wenige Personen. Menschen, die ihm etwas bedeuteten und ihm etwas hinterlassen hatten: die Erinnerung. Aber die Erinnerung war mit Schmerz verbunden, denn der Tod nimmt keine Rücksicht auf Gefühle.
    Alexander fühlte sich allein und verlassen. Was hätte er darum gegeben, seine Familie für eine einzige Stunde wieder bei sich zu haben. Nur eine Stunde, um Larissa und den Kindern zu sagen, was sie ihm bedeuteten und wie lieb er sie hatte. Um ihnen all das zu sagen, was er glaubte, versäumt zu haben.
    »Ja«, hörte er sich sprechen. »Man versäumt so vieles im Leben. Und wenn man es

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