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Der König von Sibirien (German Edition)

Der König von Sibirien (German Edition)

Titel: Der König von Sibirien (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Edwin Klein
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mit einemmal, wie der Staat wirklich war, weil er alle, die ihm dienlich schienen und Vorteile versprachen, aussaugte und ausnutzte. Bei den wenigen Gelegenheiten unseres Zusammentreffens erzählte sie mir von ihrer Arbeit und dem unmenschlichen Druck, als sogenannter freier Sowjetbürger permanent eingesperrt zu sein. Auch die anderen Experten, mit denen sie zu tun hatte, beklagten sich darüber. Deshalb versucht die Regierung ständig, das wissenschaftliche Personal von einer geheimen Einrichtung in die andere zu verlegen, falls die geplanten Projekte das überhaupt zulassen.«
    »Ist deine Schwester auch zu einem ... moralischen Spion geworden?«
    Antropowitsch nickte. »Mehr oder weniger. Alles, was sie wusste, hat sie in vier Tagen und Nächten aus dem Gedächtnis heraus aufgezeichnet und niedergeschrieben. Das war 1956, kurz nach dem Tod unserer Mutter. Zumindest zu ihrer Beisetzung durfte Helmja, so hieß meine Schwester, Tscheljabinsk-40 verlassen.«
    Länger als eine Stunde unterrichtete Antropowitsch den konzentriert zuhörenden Alexander in großen Zügen von den geheimen Dingen, die er bisher in Erfahrung hatte bringen können. Durch die Ausführungen des Ingenieurs verstand er schließlich auch den Zusammenhang, was die Ewenken Urnak und Yokola seinerzeit mit dem schlechten Licht gemeint hatten, das die Menschen krank mache.
    Die Armee, so führte Antropowitsch weiter aus, habe die Tschuktschen, ein Nomadenvolk, umgesiedelt und nur wenige Kilometer entfernt auf der Tschuktschenhalbinsel Atombombentests durchgeführt. Fast alle Ureinwohner seien an Tuberkulose erkrankt, sie hätten die höchste Speiseröhrenkrebsrate der Welt, und die Lebenserwartung gehe kaum über vierzig Jahre hinaus.
    »Vielleicht rächt sich die Natur an mir, denn auch ich bin als Ingenieur indirekt für den Wahn und das Lieber-Gott-spielen-Wollen verantwortlich.«

    Alexander kam in Moskau an, als die Panzer auffuhren. In der hereinbrechenden Dunkelheit sah er die wuchtigen, schemenhaften Schattengebilde, drohend und massiv, die Kanonenrohre dem Feind entgegengereckt. Und der Feind war das Volk, das die Perestroika zu verteidigen suchte.
    Wie ein Virus verbreitete sich das Gerücht, Jelzin sei im Weißen Haus, dem marmorverkleideten Regierungsgebäude der Russischen Republik. Alexander machte sich auf den Weg, Tausende strömten auf den großen Vorplatz. Panzer und Sozialismus und Kommunismus auf der einen Seite, Demokratie und Menschen mit dem Drang nach Freiheit auf der anderen.
    Dann die Rede Jelzins an das Volk, bedroht von den Kanonen der Panzer. Eines der Ungetüme scherte aus, andere folgten und schützten nun das Weiße Haus. Und am Mittwoch Abend, im Freudentaumel des nach vier Tagen gescheiterten Putschs, als sich wildfremde Menschen um den Hals fielen und küssten, ging Alexander mit Tränen in den Augen und tief bewegt zu einem der in Drahtkörben brennenden Feuer. Entschlossen warf er all seine Dossiers und Unterlagen hinein. Das Volk hatte gewonnen, und er gehörte zum Volk.
    Am Donnerstag kehrte die Armee in die Kasernen zurück, der Spuk war vorbei, und die Metropole pulsierte wie im Fieber. Alexander hatte als Patriot und nicht als Landesverräter an einer historischen Stunde teilgenommen. Mit diesem ungewohnten Gefühl in der Brust und voller Stolz wollte er das neue Moskau entdecken und sich endlich mit der Stadt aussöhnen. Aber der schönen, zarten Pflanze Demokratie eilten bereits ihre Schattenseiten voraus.
    Schnellimbisse, unübersehbar große Werbetafeln mit braunen Flaschen darauf und viele Bettler bemerkte er, die auf dem Boden hockten, den Schnaps gleich neben sich, ihre Hand aufhielten und die Passanten provozierend anstarrten, als hätten diese die Verpflichtung, sie zu unterstützen. Alexander sah alte Menschen, die Flaschen sammelten, ohne Leergut bekam man keinen Wodka, und verwahrloste Kinder, manche von ihnen kaum älter als zehn Jahre, die in Gruppen umherstreunten, Frauen anrempelten und ihnen in aller Öffentlichkeit die Handtasche raubten.
    In der Twerskajastraße gegenüber dem Hotel Intourist blühte der Schwarzhandel, ohne dass die Miliz einschritt. Alles gab es für Dollar und Mark: Kaffee, Tee, Pralinen, Dauerwürste, Zucker, Wodka, Cognac, Damenstrümpfe, Parfüm, sogar Obst, frischen Käse und Butter. Ähnlich wie in Sichtweite des Kreml, einer weiteren freien Umschlagstelle, wo sogar Regierungsmitglieder ihren Bedarf deckten. Hier waren es meist Gutgekleidete, die mit den Anbietern

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