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Der König von Sibirien (German Edition)

Der König von Sibirien (German Edition)

Titel: Der König von Sibirien (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Edwin Klein
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nachholen möchte, dann ist es zu spät.«
    Rassul, Klimkow, Nikolai, alle weg. Minsk nun auch schon einige Jahre, und Leonid und Yokola so weit im Osten.
    Alexander fühlte sich einsam, sehr einsam. Einundfünfzig war er und trotzdem schon ein alter Wolf, der den Fährten der Vergangenheit nachschnüffelte und dadurch alles nur noch schlimmer machte. Irgendwann wird der alte Wolf zusammenbrechen, und dann wird niemand da sein, der ihn betrauert. Was hat das für einen Sinn, wenn man keine Trauernden zurücklässt? Man sich von dieser Welt verabschiedet wie das Licht einer Kerze? Etwas Rauch und vorbei.
    Es war dunkel, als Alexander aufstand, sich ans Fenster stellte und den Kopf an die Scheibe lehnte. Der Vorgang kam ihm bekannt vor. Vier Stockwerke unter ihm die vibrierende Stadt, der Verkehr war um ein Vielfaches stärker als damals.
    Etwas Rauch und vorbei.
    Leicht schlug er mit der Stirn gegen die Scheibe. Wieder und wieder. Und im Takt dazu: Etwas Rauch und vorbei. Etwas Rauch und ... »Nein, es ist nicht vorbei«, schrie er, und die Seheibe beschlug durch seinen Atem. Und dann noch einmal in voller Lautstärke: »Es ist nicht vorbei.«
    Er ballte die Fäuste und starrte hinunter. Ein Schauer erfasste ihn, auf seinem Rücken bildete sich eine Gänsehaut. Alexander erwachte aus einem jahrelangen Dahinsiechen ohne Orientierung. Der Tod seiner geliebten Familie und danach ein Loch, das ihm die Zeit gestohlen hatte. Yokolas Worte fielen ihm ein: Das Leben ist ein Geschenk. Und da es sehr kostbar ist, hast du die Verpflichtung, darauf zu achten. Und er erinnerte sich, dass der Ewenke ihm deutlich gemacht hatte, er habe ihn nicht gerettet, damit er auf den Tod warte.
    Alexander wurde von einer seltsamen Erregung erfasst. »Behalte die große Liebe, sie wird wie ein Bild für dich sein.« Das hatte Larissa zu ihm gesagt. Tief in ihm drin und für alle Zeiten unauslöschlich waren beide Bilder: das von Larissa und den Kindern und das von Hellen: gleich groß, gleich bedeutungsvoll, aber Hellens wirkte blasser.
    »Ich will zu ihr«, sprach er laut. Und lauter. Und dann immer wieder: »Ich muss zu ihr.«
    Ein Anruf in der Hotelhalle: Der nächste Flug nach Frankhirt ging um sieben Uhr zehn am Morgen. Um vier wollte er geweckt werden.

    Die Maschine hob pünktlich ab. Alexander verkroch sich in den Sitz, als wollte er sich verstecken. Er schämte sich. Er schämte sich für sein Land, denn auf der Fahrt zum Flugplatz war er an stinkenden, qualmenden Müllhalden vorbeigekommen, auf denen zahllose Menschen umherliefen, unter ihnen sehr viele Kinder, die auf der Suche nach etwas Eß- oder Verwertbarem im Unrat stocherten. Als wollte er sich vom Gegenteil überzeugen, drückte er sich an das kleine ovale Fenster und schaute aus einigen tausend Metern Höhe auf die russische Tiefebene. Aus einer gewissen Distanz wird für den Beobachter jedes Unheil und jede Ungerechtigkeit erträglich. Von Minute zu Minute, die er gen Westen flog, wuchs seine Ungewissheit: Erkennt sie mich noch? Will sie sich noch an mich erinnern? Mit den Fingern tastete er nach ihren Briefen, die in seiner Jacke steckten.
    Mitten hinein in seine Unsicherheit, die längst die Euphorie abgelöst hatte, der Dämpfer: Damals die amerikanischen Dollar, wie kamen sie in meine Tasche? Wer hat sie mir zugesteckt? Zu keiner Zeit hatte er Hellen im Verdacht gehabt. Aber je mehr er die Möglichkeit abblockte, desto fester setzte sie sich in seinem Kopf fest. Sicherlich war das mit ein Grund für seine Aufgeregtheit. Und wenn sie es getan hat, dann wollte sie mir, einem armen Studenten, nur etwas zukommen lassen. Das redete er sich ein, und so befreite er sie von aller Schuld. Sie konnte doch nicht wissen, dass mich der KGB ...
    Alexander richtete sich stocksteif im Sitz auf, argwöhnisch beobachtet von einer Mitreisenden, die ihm schon eine Tüte reichen wollte.
    Derjenige, der mir das Geld zugesteckt hat, wusste genau, dass sie auf mich warteten. Nur das konnte die Erklärung sein.
    Und der Flug, der mit dem gestrigen Abend so hoffnungsvoll und wundersam begonnen hatte, wurde zu einer einzigen Tortur, einem Reiten auf schlimmen Ahnungen. Als sich die Maschine zur Landung in Frankfurt anschickte, wäre er am liebsten auf der Stelle umgekehrt, hätte er dazu noch die Möglichkeit gehabt.

    Alexander Gautulin, alias Robert Koenen, der Wolgadeutsche, betrat den Boden seiner Vorfahren mit unsicheren Schritten und einem ungewohnten Respekt, den er sich nicht erklären

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