Der König von Sibirien (German Edition)
konnte. Und er staunte. Das Leben, die vorbeihetzenden Menschen, eine Rolltreppe, die ihn zum Ausgang des riesigen Komplexes brachte. In der Eingangshalle setzte er sich hin und beobachtete die Reisenden. Alle hatten es eilig, alle waren gut gekleidet und hatten einen unpersönlichen Gesichtsausdruck. Das verwirrte ihn. Nur die Kinder, sie spielten so unbefangen wie überall auf der Welt. Mit einem freundlichen Nicken beruhigte er einen kleinen erschrockenen Jungen, dessen ferngesteuertes Auto gegen seinen Fuß geprallt war.
Alexander ging zögernd nach draußen. Hohe Gebäude, ein langgestrecktes Parkhaus, die Schlange der wartenden Taxis. Als er Düsseldorf als Fahrziel nannte, fragte ihn der Fahrer, ob er wirklich Düsseldorf meine Alexander bejahte. Dann sei es doch besser, riet ihm der Fahrer, eine Etage tiefer zu gehen und den Zug zu nehmen. Der sei schneller und obendrein billiger.
Aus dem Untergrund ratterte der Zug hinaus in die Helligkeit. Wie ein Kind drückte Alexander seine Nase an die Scheibe. Das also war seine Urheimat. Auf einmal glaubte er zu wissen, wo er hingehörte: nach Deutschland. Hatte er nicht auch all die Eigenschaften, die man den Deutschen nachsagte?
Den Rhein entlang ging die Fahrt. Viel hatte Alexander von diesem Strom gehört. Seine Augen konnten nicht genug bekommen und saugten alles auf.
In Düsseldorf stellte er sich die berechtigte Frage: Wo wohnt Hellen denn überhaupt? Er sah in einem Telefonbuch nach, es gab keine Hellen Birringer. Er rief bei der Firma Mannesmann an, dort bedauerte man sehr, aber wenn das schon so lange zurückliege, dann könne man ihm leider nicht helfen. Und die Post wusste auch keinen Rat.
Verwirrt von dem Angebot in den Geschäften, kaufte er sich etwas Obst. Alexander, der immerhin einige-Weltstädte kannte, darunter Tokio, die wohl pulsierendste, merkte nicht, wie erstaunt er war und wie wohlwollend er alles betrachtete. Seltsamerweise verglich er Deutschland nicht mit Japan, wie es angebracht gewesen wäre, sondern mit der Sowjetunion. Die eine Heimat mit der anderen, die des Wolgadeutschen mit der seiner Vorfahren.
Zuerst suchte er ein Hotelzimmer. Der ältere Herr hinter der Rezeption staunte nicht schlecht über seinen Pass und den Namen. »Sie kommen aus der Sowjetunion, Herr Koenen?«
Alexander nickte.
»Mann, das war ja vielleicht ein Schlamassel. Noch mal gut gegangen für Jelzin.«
»Ja, noch mal gut gegangen.«
»Und woher, wenn ich fragen darf?« Sofort entschuldigte er sich für seine Neugier und erklärte leise, er habe im Krieg am Russlandfeldzug teilgenommen. Alles arme Schweine.
»Kirensk. Ich komme aus Kirensk.«
Der Mann rückte seine Brille zurecht. »Kirensk?«
»Das liegt nördlich vom Baikalsee.«
»Baikalsee ... Baikalsee ...« Verwundert sah er Alexander an. »So weit im Osten? Und dann einen deutschen Namen?«
Alexander wollte höflich sein und doch keine langen Erklärungen abgeben. »Ich suche jemanden. Eine Frau. Aber sie kann mittlerweile geheiratet haben.«
»Anschrift oder Adresse?«
»Nichts, nur Düsseldorf und wie sie heißt.«
»Ja, ja, die Frauen.« Der ältere Herr mit der dicken Hornbrille schmunzelte. »Es ist vielleicht indiskret, aber die betreffende Dame, ist das schon ... äh ... länger her?«
»Es war ungefähr zu der Zeit, als man in Berlin die Mauer baute.«
»Donnerwetter.«
Alexander erzählte, er wisse für wen und in welcher Funktion sie damals gearbeitet habe, und zwar bei der Firma Mannesmann, als Dolmetscherin für eine Gruppe von Wirtschaftsexperten.
Der ältere Herr telefonierte einige Male, dann gab er Alexander einen Zettel, darauf stand der Name eines Konzernmitarbeiters. »Melden Sie sich bitte bei ihm.«
Auf seinem Hotelzimmer kamen ihm wieder die Bedenken. Du kannst das Rad nicht zurückdrehen und auch nicht die Gefühle. Du drängst dich vielleicht in eine intakte Ehe und bringst nur Probleme mit. Überleg doch mal, was alles in der langen Zeit geschehen sein kann. Und überhaupt: Weißt du denn, ob sie noch lebt?
Auf der einen Seite fieberte er wie als kleiner Junge, wenn es auf Weihnachten zuging. Die Vorfreude ließ ihn zittern und beim Gehen stolpern, wie vor vielen Jahren vor dem Fest. Während er schlief, hatte seine ihm Mutter Geschenke ins Zimmer gestellt. Wo hat sie die nur her, fragte er sich schon als Zehn-und Zwölfjähriger. In den Geschäften gibt es so etwas doch nicht. Dann der Duft von Kuchen und Mandeln, Nüssen und Trockenobst, einmal sogar
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