Der König von Sibirien (German Edition)
über die Schulter und sah, wie der Gemaßregelte diensteifrig nickte.
»Jawohl, Genosse Hauptmann.«
»Rufen Sie sofort den Arzt.«
Und wieder einmal hatte die Administration auf subtile Art ihre Hände in Unschuld gewaschen. Selbstverständlich wurde das Verhör sofort abgebrochen, zuviel war in letzter Zeit auf den Natschalnik eingestürmt. Zwei Tote und dann auch noch so etwas.
Man brachte Alexander in die Krankenstation. Der Arzt untersuchte ihn, nähte die Kopfverletzung und stellte keine weiteren körperlichen Schäden fest, die auf Schläge oder Folter zurückzuführen wären. Schwellungen und gerötete Haut stammten ganz einfach von dem Bettzeug, vielleicht eine Allergie, und vom unruhigen Schlaf. Im Gegenteil, der Mediziner bescheinigte dem Patienten sogar eine ausgezeichnete Konstitution. Alexander, der sich derweil im Spiegel betrachtete, sah an seinem Oberkörper ihm ganz neue Ecken und Kanten, besonders dort, wo sich an Schlüsselbein und Schulterblatt die Knochen durch die Haut drückten. Mehrere Kilogramm hatte er abgenommen, Dellen unterhalb der kurzen Rippe und die dünn gewordenen Oberschenkel bewiesen es. Alexander wurde in ein Bett verfrachtet und mit einer heißen Suppe verwöhnt. Noch nie hatte er etwas so Köstliches gegessen: Rindsbrühe mit echten Fleischstückchen.
Kurze Zeit darauf besuchte ihn der Lagerkommandant mit einem Zivilisten, der sich nach Alexanders Befinden erkundigte. Ein Fotograf war auch zufällig zugegen, aber bevor Alexander eine Frage an den freundlichen Fremden richten konnte, hatte der Viehtreiber ihn wieselflink hinauskomplimentiert. Eine halbe Stunde später musste Alexander das schöne Krankenbett räumen und in den Schlafsaal umziehen. Zu seinem Glück hatte er die Suppe da bereits gegessen.
Alexander, der mehr und mehr in sich hineinzuhorchen schien, als sei er auf der Suche nach sich selbst, merkte, wie er sich veränderte. Zu Beginn zählten nur seine Gedankenwelt, nur sein Hinwenden zu Hellen Birringer und die schönen Stunden, die er mit ihr Nacht für Nacht erlebte. Deshalb fehlte ihm die Antenne für das, was um ihn herum geschah. Er war der Träumer und den ganzen Tag über auf der Flucht vor der Wirklichkeit.
Die Wende war eingeleitet, als er in der Spezialzelle hatte einsitzen müssen. Schlimm war für ihn die Erfahrung gewesen, dass ein Menschenleben für seine Peiniger, die er noch nicht einmal richtig zu Gesicht bekommen hatte, nichts zählte. Schlimm auch die Erkenntnis, so brutal seine Grenzen aufgezeigt zu bekommen, was Schmerzempfindlichkeit und Durchhaltevermögen anbelangte. Noch schlimmer aber äußerte sich als Folge der demütigenden Quälerei die eigene Selbstaufgabe, die Einsicht, ohne Würde zu sein, ein willenloses Bündel aus schlaffen Muskeln, Haut, Sehnen und Haaren, nur noch dem Aussehen nach ein Mensch. Hätte man ihn damals nicht davon abgehalten, Alexander wäre immer wieder gegen die Wand gelaufen.
Wegen der Vorgänge in seinem direkten Umfeld, erst durch Mikolas, am meisten aber wohl durch Anatolis Tod, der ihn sehr berührte, wurde Alexander allmählich aufgerüttelt. An Stelle von Hellens Bild sah er in der Folgezeit immer deutlicher Anatolis bleichen Körper vor sich, mit dem Schaum im Mund und dem blutigen After. Anatoli, dem man im Zug schon in den Mund uriniert hatte. Keiner der Mitgefangenen konnte damals auf der Fahrt zum Strafgefangenenlager ahnen, dass dies nur ein harmloses Vorspiel gewesen war. Ein Vorspiel, das mit dem grausamen Tod des Jungen enden sollte.
Und je mehr Alexander die Wirklichkeit registrierte, desto auffälliger spürte er innerlich die Angst, und er gestand sich ein, den Anforderungen des Lagerlebens nicht gewachsen zu sein. Wie sollte er auch, bei der gut behüteten Jugend, die er genossen hatte.
Die Stimmung unter den Lagerinsassen wurde immer aggressiver, vor jeder Mahlzeit klapperten sie minutenlang mit dem Essgeschirr. Unüberhörbar forderten sie, die Schuldigen am Tod von Anatoli und Mikola zur Verantwortung zu ziehen. Als daraufhin die Lagerleitung die Essensausgabe sperrte, flogen spontan Teller und Löffel und Gabeln durch die geschlossenen Fenster nach draußen ins Freie. Stühle und Fische folgten.
Die Wachposten im Lager wurden verstärkt, jetzt kontrollierten sie nur noch zu dritt. Als das immer noch nicht genügte, um die Gefangenen einzuschüchtern, drehte man mitten im Winter kurzerhand die Heizung herunter. Frierend saßen die Inhaftierten die ganze Nacht zusammen,
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