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Der König von Sibirien (German Edition)

Der König von Sibirien (German Edition)

Titel: Der König von Sibirien (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Edwin Klein
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in ihre Augen, sie strafften sich und nahmen plötzlich eine Körperhaltung an, die Kampfbereitschaft und Aggressivität signalisierte. Was will der Neue? Wer ist es?
    Alexander stellte sich ihnen vor. Dass er bisher in Perm 35 eingesessen hatte, wirkte wie eine Entwarnung auf die skeptischen Männer, die sich wieder entspannten und zu ihren Pritschen schwenkten.
    »Dann sind wir also jetzt Nachbarn«, wurde Alexander angesprochen, und eine Hand schob sich ihm entgegen. »Rassul.«
    »Alexander.«
    Als er in das Gesicht des Mannes schaute und es mit dem von Mikola verglich, der trotz seiner achtundvierzig Jahre bereits so alt ausgesehen hatte, erschrak Alexander. Hier stand er einem Greis gegenüber, eingefallen, schon geschrumpft, mit tiefen Falten im Gesicht und mit silbrigen Bartstoppeln. Er hatte nur noch wenige Haare und mit einer schwarzgrauen Ausnahme keine Zähne mehr im Mund, statt dessen wulstige Lippen wie ein Schwarzer.
    »Ich weiß, ich bin nicht mehr der Jüngste und auch keiner der Schönsten«, scherzte Rassul, und Alexander hatte Mühe, ihn zu verstehen. »Um das Altwerden brauchst du dich hier nicht zu kümmern, das geschieht von allein.«
    Rassul warf sich auf die Pritsche und streckte sich mit einem Seufzen. »Was hast du ausgefressen?«
    »Devisenvergehen. Und subversive ... Aber ich bin ...«
    »Wir sind alle unschuldig. Reg dich nicht auf. Hast Glück, erwischst einen guten Platz. Jurij ist gestern gestorben.« Als sei das Sterben eines Häftlings das Natürlichste auf der Welt, deutete Rassul auf die Pritsche, nun Alexanders Bett. »Zehn Tonnen Gestein hält kein Körper auf die Dauer aus.«
    Unauffällig beobachtete Alexander die übrigen Strafgefangenen, eine andere Schicht von Häftlingen als in Perm 35, nicht nur was ihr Erscheinungsbild betraf. Es gab keine Politischen unter ihnen, jeder hatte eine Mindeststrafe von zehn Jahren abzusitzen. Das erstaunte Alexander nicht. Ihn verwirrte allein der Umstand, was einer hatte tun müssen, um diese zehn Jahre zu erhalten. Rassul, so erzählte er ihm später, war aus Versehen bei einem Umzug ein Stalinbild von der Wand gefallen. Zehn Jahre. Und dabei hatte man ihn gerade erst aus dem gefürchteten Workuta, der Perle des Nordens, entlassen.
    Semja war zu vierzehn Jahren verurteilt worden, weil er sich am sozialistischen Eigentum vergriffen und im Herbst auf einer Sowchose eine Karre voll Holz hatte mitgehen lassen. Zwanzig Jahre musste Ilja absitzen, wegen zweifachen Mordes. Frau und Kind hatten daran glauben müssen, als er im Vollrausch zum Messer griff.
    Was so unlogisch anmutete, das Strafmaß-Verhältnis für einen Mord und für eine Karre voll Holz, hatte doch System und Sinn. Einen Mörder hinzurichten, brachte dem Staat keinen Gegenwert, denn er vernichtete ein Leben, ohne es für den Rest seiner Funktionsfähigkeit auszubeuten. Deshalb verurteilte man die meisten Angeklagten zu hohen Gefängnisstrafen, damit ihnen auch eine lange Zeitspanne zur Verfügung stand, über ihre Schuld nachzudenken und um die staatliche Zeche mit der Kraft ihres Körpers zu bezahlen. Zwanzig Jahre, das war aber in vielen Straflagern so gut wie ein Todesurteil. Allein die Tatsache, dass sich die Verurteilten an das Leben klammerten, man es ihnen quasi geschenkt hatte, setzte bei ihnen eine Motivation frei, die der Staat für sich ummünzen und ausnutzen konnte. Sterben auf Raten brachte ihm mehr ein, so wie bei Jurij, dessen Pritsche Alexander jetzt benutzen durfte. Er hätte noch wegspringen können, verdeutlichte Rassul ohne Emotionen, aber Jurij sei wohl schon zu schwach gewesen. Immerhin habe er zwölf Jahre in 60/61 durchgehalten.
    »Was bedeutet 60/61 ?«
    »Die Zahlen sind die geographischen Koordinaten: 60. Grad östliche Länge und 61. Grad nördliche Breite. Kapiert?« Alexander nickte. »Und wie heißt die nächste Stadt?«
    »Friedhof.«
    »Wie bitte?«
    »Unser Friedhof hat mehr als fünftausend Bewohner.« Rassul lachte, und in seiner schwarzen Mundhöhle zeichnete sich nur unwesentlich heller der Zahnstumpf ab. »Iwdel, so lautet der Stadtname.«
    »Noch nie gehört.«
    »Und Serow?«
    »Kenne ich.«
    »Nützt dir auch nichts, ist weiter entfernt als der Mond. Wirst du nie mehr sehen können. Schade um die Mädchen, die doch so sehnsüchtig auf dich warten.«
    Rassul sprach das ohne Groll. Einfach nur als Feststellung, ohne besondere Betonung und ohne Hintergedanken, als beschreibe er das Wetter. Aber er hatte Alexander das Stichwort geliefert:

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