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Der König von Sibirien (German Edition)

Der König von Sibirien (German Edition)

Titel: Der König von Sibirien (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Edwin Klein
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rückten enger und enger und schmiedeten Pläne. Aber es blieb bei den Plänen, denn auch die Anzahl der Schäferhunde hatte man erhöht. So, wie die draußen herumhechelten und bellten, waren sie sehr hungrig.
    Mehrere Wochen dauerte die angespannte Situation in Perm 35, Wochen, in denen Alexander hin-und hergerissen war zwischen Wunschwelt und Gegenwart, bis er sich schließlich endgültig vom Träumen verabschiedete. Und als sich die Lage zu entkrampfen schien, sich Strafgefangene und Lagerleitung schon auf einen Waffenstillstand geeinigt hatten, da erhängte sich eines Tages kurz vor dem Mittagessen in der Ecke des Speisesaals ein Häftling - der Ersatzmann für Anatoli, dessen Aufgabe es gewesen war, Tische und Boden zu reinigen. Er schaukelte an dem lose herunterbaumelnden Elektrokabel, an dem normalerweise eine Lampe befestigt war. Vollkommen unbemerkt von den Wachposten war es geschehen, die derweil in der Küche herumlungerten und sich die besten Brocken aus der Suppe fischten.
    Nachdem die Gefangenen den Toten entdeckt und wieder irgendeine Schweinerei vermutet hatten, stürmten sie nach draußen und machten ihrem Arger Luft. Als erstes rissen sie die Betonpfosten mit dem Stacheldraht aus dem Boden. Eine beachtliche Leistung, denn die Pfosten waren eingefroren. Dann schleuderten sie die Pfosten gegen die Gebäude, einige Scheiben gingen zu Bruch. Zu Bruch gingen auch die Rippen eines Wachpostens, der dem Wurfgeschoß nicht mehr ausweichen konnte.
    Eine Maschinengewehrsalve, die Kugeln wirbelten kleine Schneefontänen in die Luft, stellte die Ordnung aber schnell wieder her. Im kalten Schnee flach auf dem Boden liegend, hatten die Gefangenen eine halbe Stunde Zeit, über ihr Verhalten nachzudenken und sich abzukühlen. Anschließend durften sie zu ihrer Verwunderung in die Baracken. Alle warteten dann mehr oder weniger angstvoll auf die Reaktion des Viehtreibers.
    Zwei Tage später die Überraschung: Keine Untersuchung, keine direkten Strafmaßnahmen, stattdessen wurden die Insassen auf andere Lager verteilt. Noch bevor sich die Häftlinge erholen und entsprechend reagieren konnten, fuhren schon Lkw mit geschlossenen Blechaufbauten vor. Dicht zusammengepfercht zwischen anderen brachte Alexander zwei Tage und eine Nacht in diesem dunklen, schaukelnden Gefängnis zu. Alle vier Stunden gab es eine kurze Pause und ein Stück Brot. Kein Wasser - überall Tag ja genug Schnee.

    Nicht, dass er schon wieder in die Rolle eines Träumers geschlüpft wäre, aber Alexander malte sich die zukünftige Entwicklung etwas rosiger aus als die Vergangenheit. Wenn Perm 35 das sicherste

Gefängnis der Welt war, mit schönen Einrichtungen - wie Mikola ironisch gemeint hatte, als sie ankamen -, und einem großen Friedhof, auf dem der Achtundvierzigjährige jetzt selbst Tag, dann konnte es doch nur besser werden.
    Dieses Bild hielt an, bis man nach langer holpriger Fahrt die hintere Klappe des Lkw öffnete und das harte Kommando zum Aussteigen erklang. Geblendet von der Helligkeit des reflektierenden Märzschnees schloss Alexander die Augen. Als er sie wieder öffnete, dachte er, er habe sich getäuscht, aber der Lkw stand tatsächlich mitten in einem Lager, falls das, was er sah, überhaupt diese Bezeichnung verdiente: Schief der Stacheldrahtzaun, schief die Gebäude, schief sogar die Wachtürme. Alles war heruntergekommen, wie er auf den ersten Blick erkennen konnte. In vielen Fenstern befanden sich keine Scheiben, Türen hingen lose in den Angeln, das Holz der Wände war aufgerissen, so dass man bis in den Raum dahinter schauen konnte.
    Etwas abseits stand ein nach zwei Seiten offenes Zelt in den Tarnfarben des Militärs. Holzbretter auf leeren Teerfässern dienten als Tische, kleinere Ölkanister oder was immer sie gewesen waren als Stühle. Ein Schild wies unzweifelhaft darauf hin: Hier befand sich die Kantine.
    Am meisten abschreckend wirkten jedoch auf Alexander die wenigen zerlumpten Gestalten, die an ihm vorbeischlurften. Hängende Schultern, magere Körper, blutunterlaufene Augen und die Füße in Lumpen gewickelt.
    Wieder ein Appell, wieder das gewohnte Warten. Aber jetzt musste man regungslos stehenbleiben, sonst gab es sofort den Knüppel.
    Insgesamt 28 Strafgefangene waren von Perm 35 hierher verfrachtet worden, und sie wurden so aufgeteilt, dass sie in ganz entfernten und unterschiedlichen Lagerbereichen untergebracht wurden.
    Abgesehen von dem verkommenen Zustand war Alexanders neues Domizil um ein Mehrfaches

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