Der König von Sibirien (German Edition)
Hellen. Alexander dachte wieder an sie.
Die Verpflegung lief im Eiltempo ab. Jeder der Strafgefangenen machte sich, sobald eine Pfeife, ähnlich die einer Dampflokomotive, ertönte, schnell auf den Weg zum Zelt, stellte sich ans Ende der Schlange und hoffte, dass seine Portion größer ausfallen möge als die des Vordermannes. Dann nichts wie zurück in die Baracke und den Fraß runter geschlungen.
Rassul machte aus dem Essen eine Zeremonie, wohl auch deswegen, weil ihm das entsprechende Werkzeug dazu fehlte. Langsam und bedächtig und mit geschlossenen Augen schob er das harte oder weiche Brot, weich, wenn man es kurz vor dem Schimmeligwerden ins Wasser gelegt hatte, in den Mund und genoss jede Kaubewegung. Er war immer als letzter fertig. Rassul übernahm es auch, Alexander an diesem Abend ein wenig im Lager umherzuführen und ihm den Bereich zu zeigen, den er betreten durfte. Als Alexander - die Trostlosigkeit des Gesehenen hatte ihm die Stimme verschlagen, und er fühlte sich sehr deprimiert - am von Scheinwerfern angestrahlten Grenzzaun zum daneben liegenden Bezirk vorbeiging, hörte er plötzlich seinen Namen.
Alexander blieb überrascht stehen. »Mensch, Sascha, haben sie dich auch hierher gebracht?«
Sascha, der in Perm 35 mit Alexander im selben Schlafsaal gelegen hatte, trat an den Zaun. »Wie geht es dir?«
»Morgen wird es uns schlechter gehen«, entgegnete Alexander ahnungsvoll.
»Aber hier haben sie kein Schizo.«
Alexander, der merkte, wie Sascha sich Mut zu machen versuchte, entgegnete mit einem Blick zu Rassul: »Brauchen sie auch nicht. Sie haben das Bergwerk.«
»Und auch keine Spezialzellen.«
»In meiner Baracke ist eine.«
Dann meinte Sascha scheinbar ohne Zusammenhang: »Vielleicht sehe ich doch noch mal die Elefanten.«
Ein Aufseher trennte sie. Sascha erhielt einen Schlag mit dem Knüppel, Alexander hatte Glück, er war unerreichbar auf der anderen Seite des Zaunes.
»Perm 35?« fragte Rassul.
»Ja. Sascha ist ein armes Schwein.«
»Es gibt keine armen Schweine. Es gibt nur uns.« Und nach wenigen Metern: »Was hat er ausgefressen?«
»Nichts.«
Rassul atmete schwer. Vielleicht wegen des Staubs in der Lunge. Sechs Jahre war er nun schon hier in 60/61 »Das kannst du deinem Popen erzählen.«
»Sein Vater war ein hoher Offizier beim KGB. Er blieb in England, und da hat man kurzerhand die ganze Familie eingesperrt, Sascha schon seit fünf Jahren. Er weiß überhaupt nicht, wie lange er sitzen muss.«
Rassul stocherte mit dem Finger in einem seiner großen Nasenlöcher. »Habe ich noch nie gehört. KGB-Agent bleibt im Ausland. Wird denen sauer aufgestoßen sein. Und was für einen Tick hat Sascha mit den Elefanten?«
»Sein größter Wunsch ist, die Elefanten zu sehen. Afrika ist für ihn der Inbegriff von Freiheit.«
»Afrika? Wird er lange warten müssen.« Schwerfällig setzte sich Rassul wieder in Bewegung. »Wenn du es aber unbedingt darauf anlegst: Einen Elefanten kann ich dir auch hier zeigen. Einen ganz gewaltigen.«
»So?« Alexander versuchte in Rassuls verschlossenem Gesicht zu lesen. »Und wo, bitte schön?«
»Morgen früh, wenn es zur Arbeit geht. Der Elefant ist mächtiger als unser Natschalnik.«
»Du meinst den Hageren mit dem kalten Gesicht?«
»Pagodin? Ist nur der Leiter unseres Bezirks. Vor dem Elefant kuscht der wie ein Hund vor einem Bären.«
»Los, sag schon, wer ist der Elefant?«
Rassul zog Alexander vor der Baracke etwas auf die Seite. »Er ist der Chef der Verbrecherorganisation, die das Lager im Griff hat. Elefanten nennt man die Führer der Blatnoij.«
Alexander zuckte zusammen und sah die Situation im Zug vor sich: Anatoli, mit Urin in Mund und Gesicht.
»Ich habe in Perm 35 gehört, die Organisation sei schon 1948 von Berija verboten worden.«
»Das ist... richtig.« Rassul lachte verächtlich. »Wenn sie aber damals verboten worden ist, wie konnte es denn dann 1952 zu meiner Zeit in Workuta zu einem Aufstand der Blatnoij kommen, he? Ein Aufstand, bei dem mehr als hundert ums Leben gekommen sind, und die meisten von ihnen waren Soldaten.«
Rassul straffte sich unbewusst, als er vom Widerstand sprach, dem Streik der Häftlinge wegen der unmenschlichen Zustände und weil man sie wie den letzten Dreck behandelte. Zuckenden, lebenden Dreck. Eine künstliche, zwanghafte Ansammlung von Menschenmassen unter unwürdigen Bedingungen, die dazu führte, dass die primitivsten Instinkte freigesetzt wurden. Jeder hatte nur ein Ziel: Überleben,
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