Der Königsberg-Plan: Thriller (German Edition)
Felskegel nur wenige Kilometer vor ihnen die Grenze zwischen der Bretagne und der Normandie markierte.
Als Zoé gemeinsam mit Benjamin am frühen Morgen das Schiff verließ, rieselte hauchfeiner Regen durch den Nebel auf sie herab. Durch meterhohes Schilf näherten sie sich auf Schleichwegen ihrem Ziel. Nach einer halben Stunde begann sich der schier undurchdringliche graue Dunst um den sagenumwobenen Sakralbau allmählich zu lichten, und plötzlich türmte sich der Mont Saint-Michel achtunggebietend vor ihnen auf.
Zoé verharrte, und auch Benjamin blieb im Angesicht des imposanten Bauwerks stehen. Die mächtigen Befestigungen am Fuß des Burgbergs wirkten bedrohlich und uneinnehmbar. Über den gewaltigen Bollwerken thronte in schwindelerregender Höhe das Kloster. Wie ein mahnender Finger ragte im Zentrum der Insel der Glockenturm der Abteikirche in die neblige Höhe.
„Die Engländer sind im Hundertjährigen Krieg vergeblich gegen diese Trutzburg angerannt“, sagte Benjamin, ohne den Blick von der Insel zu nehmen. „Erstaunlich, dass sie es überhaupt versucht haben.“
„Stimmt, aber die Anlage war nicht nur gut zu verteidigen“, ergänzte Zoé, „das Burgkloster war auch praktisch ausbruchsicher. Deshalb befand sich hier nach der Französischen Revolution eines der schrecklichsten Gefängnisse des Landes.“ Unvermittelt kam ihr der ursprüngliche Name des mystischen Inselbergs in den Sinn. „Noch bis ins achte Jahrhundert haben die Bretonen den Berg Mont Tombe genannt. Erst als der Erzengel Michael Bischof Aubert von Avranches befahl, eine Kirche auf dem Berg zu errichten, änderte sich der Name.“
Mont Tombe, das bedeutet Grabhügel, wollte sie noch hinzufügen. Doch sie schluckte die Worte herunter und schwieg. Auf einmal kam ihr die Felsburg nur noch grau, kalt und abweisend vor.
Später, als die Sonne schon hoch am Himmel stand und dem Nebel einen hellen Schimmer verlieh, hatte Zoé diese düsteren Gedanken längst verdrängt. Sie befand sich in der Nähe des Châtelet , des Burgtors mit den beiden Zwillingstürmen und offiziellen Eingangs der Abtei, von wo sie einen märchenhaften Blick auf die Umgebung hatte. Über dem Meer lag ein dichter Dunst, auf dem der Klosterberg wie ein Wolkenschloss zu schweben schien. Der befestigte Steg, die einzige Verbindung zum Land, führte geradewegs in die undurchdringliche Nebelwand.
Sie lehnte an den Mauerresten eines Teils der mittelalterlichen Befestigungsanlage und stampfte im Schutz einer Mauernische mit den Füßen auf den abgetretenen Granitboden. Doch die Kälte in ihren Gliedern ließ sich nicht so leicht vertreiben. Sie neigte ihren Oberkörper vor, was ihr einen weiten Blick auf die Gebäude unterhalb der Abtei ermöglichte. Wie ein kopfsteinbepflasterter Lindwurm schlängelte sich die Grande Rue zum Kloster hinauf. Die gassenartige Straße säumten dichtgedrängte Fachwerkhäuser, die Hotels, Restaurants und Souvenirläden beherbergten.
Sie zog den rechten Ärmel ihrer Winterjacke hoch und schaute auf die Uhr. Elf Uhr achtzehn. Ein paar Regentropfen fielen auf das Zifferglas der Uhr; sie wischte sie weg und schob den Ärmel wieder darüber. Dann warf sie erneut einen Blick auf die Gasse und betrachtete kritisch die wenigen Touristen, die an einem solch verregneten Januartag den Mont Saint-Michel besichtigten.
Benjamin hatte gegen neun Uhr mit den ersten Besuchern die Klosteranlage durch das Burgtor betreten, während sie sich vor dem Tor in der Mauernische verborgen hatte.
Stundenlang waren erschöpfte Familien in klitschnassen Regenponchos, lautstarke Besuchergruppen aus aller Herren Länder, Pärchen mit gedämpfter oder euphorischer Laune und hier und da auch ein paar Alleinreisende an ihr vorbeigetrottet, frierend, aber erwartungsvoll.
Keiner von ihnen hatte auch nur im Geringsten Verdacht erregt. Wenn sich nicht bereits jemand im Klostergebäude versteckt hielt, war Benjamin dort drinnen so sicher wie in Abrahams Schoß. Natürlich ließ sich nicht mit Sicherheit ausschließen, dass das Treffen verraten worden war. Einer oder gar mehrere von Thalbergs Bande hatten es vielleicht geschafft, in der Nacht in die Abtei einzudringen, obwohl das angesichts des klösterlichen Wachschutzes nicht ganz einfach war. Und selbst für Thalberg war es schwierig, in der Kürze der Zeit einen Trupp auf die Klosterinsel zu schaffen. Trotzdem hatte sie von Benjamin das Versprechen verlangt, äußerst vorsichtig zu sein und beim geringsten Verdacht sofort
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