Der Königsberg-Plan: Thriller (German Edition)
den Rückzug anzutreten.
Das und das Wissen um seine Pistole beruhigten sie etwas. Auch ihre Finger umschlossen den Griff eines kleinen Revolvers.
Sie hatte sich zunächst strikt geweigert, die Waffe auch nur anzufassen. Es war eine Horrorvorstellung für sie, mit einer geladenen Pistole herumzulaufen. „Ich treffe ein Scheunentor nicht mal auf drei Meter Entfernung“, hatte sie hervorgebracht. „Mag sein“, hatte Maria geantwortet und ihr die Pistole hingehalten, „aber einen Mann auf einen halben Meter bestimmt.“
Schließlich war es Benjamin gewesen, der sie überzeugt hatte, das todbringende Ding einzustecken. „Wenn dir etwas Verdächtiges auffällt und du der Meinung bist, wir sollten fliehen, schieß zweimal hintereinander in die Luft und setz dich dann, so schnell du kannst, ab. Warte nicht auf mich. Wir treffen uns auf dem Boot.“ Der Revolver war ihre einzige Möglichkeit, Alarm zu schlagen.
Widerwillig hatte sie die Waffe eingesteckt, doch damit hatte Maria es nicht bewenden lassen. „Hiermit habe ich Gommel getötet“, hatte sie gesagt, als sie ihr einen schmalen, beidseitig geschärften Dolch überreichte. Der Griff war aus Elfenbein und ungefähr so lang wie die Klinge. Zu ihrer Überraschung hatte er sich perfekt in ihre Hand geschmiegt. Benjamin hatte ungläubig zugeschaut, als Maria ihr gezeigt hatte, wie man die Klinge bequem im rechten Winterstiefel verbergen konnte. Von Anfang an war ihr klar gewesen, dass sie Benjamin nicht allein zum Treffen gehen lassen würde. Entgegen seiner Bitte, sich mit Maria und Paul in Sicherheit zu bringen, hatte sie darauf bestanden, ihn zu begleiten. Die Erinnerung verstärkte ihre Anspannung, und sie atmete ein paarmal tief ein und aus, um sich zu beruhigen. Wir übergeben die verdammten Papiere und verschwinden.
Eine Windbö schlug ihr den Regen kalt und prickelnd ins Gesicht und beendete ihre Gedankenspiele. Abermals zog sie den Ärmel hoch und sah auf die Zeiger ihrer Uhr. Elf Uhr einunddreißig. Schnell neigte sie sich vor, und ihr Herz begann laut zu schlagen.
Da waren sie! Sie hatten das untere Eingangstor, die Porte de l’Avancée, bereits passiert, und Zoé sah, wie der hochgewachsene, kräftige Kriminalpolizist seine Mühe hatte, Arno Reißfeld im Rollstuhl den Weg hinauf zum Kloster zu schieben. Für einen Augenblick stand sie nur still da und starrte auf die Szene weit unter sich. Ein leichter Schwindel erfasste sie, als ihr erneut das ganze Ausmaß der Affäre bewusst wurde. Die Bundesrepublik Deutschland musste sich zweifellos in einer ernsten Staatskrise wähnen, wenn der Innenminister Hals über Kopf in der Nacht aus Berlin nach Nordfrankreich reiste, um persönlich ein altes Geheimdossier in Empfang zu nehmen.
Hoffentlich würde alles gutgehen. Sie schickte ein Stoßgebet zum nebelverhangenen Himmel hinauf.
Obwohl auch Reißfeld mit seinen muskulösen Oberarmen nach Kräften mithalf, kamen die beiden Männer nur langsam auf dem beschwerlichen Weg voran. Erst nach einiger Zeit näherten sie sich endlich, und Zoé blieb die Auswölbung unter der engen Regenjacke des Sicherheitsmannes nicht verborgen. Hauptkommissar Schmitt trug eine Waffe. Aber das war auch nicht anders zu erwarten gewesen.
Die Muskeln der Männer schienen nun warm zu sein, denn die beiden kamen schneller voran, obwohl die Steigung auf dem letzten Wegabschnitt der Grande Rue stetig zunahm. Reißfeld hatte sich die Kapuze seiner Regenjacke vom Kopf gerissen, und die langen grauen Haare klebten nass an seinem markanten Haupt. Schwitzend knöpfte er sich die Jacke vorne etwas auf und schob die dicke dunkelblaue Wolldecke über seinen Beinen ein paar Zentimeter nach unten. Dann griff er mit zusammengepressten Lippen wieder in die Räder des Rollstuhls.
Kurze Zeit später waren die beiden Männer oben angelangt und entschwanden aus Zoés Blickfeld. Sie wandte sich um und spähte hinter der Mauernische zum Burgtor herüber. Langsam schob der blonde Polizist den Innenminister unter den beiden Zinnentürmen hindurch in die Abtei. Sie lehnte den Rücken an das alte Mauerwerk und kontrollierte ihre Uhr: elf Uhr siebenundvierzig. In wenigen Minuten würde im Kreuzgang des Klosters die Entscheidung fallen.
Der Kreuzgang lag auf der obersten Ebene der Abtei und galt gemeinhin als eine der Hauptattraktionen des Mont Saint-Michel. In jedem Fall stellte der von Wandelgängen umgebene Innenhof den Höhepunkt einer jeden Besichtigung der sogenannten Merveille dar. Die Äbte hatten
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