Der Königsberg-Plan: Thriller (German Edition)
hier mit Unterstützung des französischen Königs Philippe-Auguste ein gotisches Wunderwerk über den Fluten des Ärmelkanals errichtet. Die Merveille umfasste auf ihrer obersten Ebene neben dem Kreuzgang noch das sich östlich anschließende Refektorium. Auch heute rief die wagemutige Architektur der mittelalterlichen Bauleute fassungsloses Erstaunen hervor. Es war den alten Baumeistern gelungen, die dreistöckige Merveille entgegen den statischen Widrigkeiten sicher auf dem steilen Felsen hoch über dem Meer zu errichten und dank des Spitzbogengewölbes hohe und helle Räume zu schaffen. Ein Wunder, gemacht mit Lot, Granit und Mörtel.
„Die Merveille “, hatte Benjamin ihr auf dem Boot erzählt, „steht schon lange auf der Liste der Orte, die ich unbedingt besuchen will.“ Doch Zoé war überzeugt davon, dass er heute nur wenig Muße für die Besichtigung des zwischen Himmel und Meer schwebenden sakralen Rundgangs haben würde. Denn es waren alles andere als kunstsinnige Gesichtspunkte, die die Wahl des Treffpunkts bestimmt hatten.
Er würde sich unter den vielen Touristen relativ sicher bewegen, außerdem konnte der Kreuzgang sowohl von der Ostseite als auch von der Südseite betreten und wieder verlassen werden. Und schließlich boten ihm die über zweihundert filigranen versetzten Säulen viel Deckung, falls es notwendig sein sollte.
Ein idealer Ort, dachte Zoé und atmete tief durch, aber die Anspannung wollte nicht von ihr weichen. Sie strich sich mit den Händen übers Gesicht und massierte ihre Wangenknochen. Mach dich nicht verrückt! Niemand hat von dem Treffen erfahren.
Ein paar Minuten würde sie noch warten, ehe sie dem Innenminister und seinem Bodyguard unauffällig folgte. Wie mit Benjamin verabredet, würde sie ihm den Rücken freihalten – und im schlimmsten Fall eingreifen können.
Entschlossen griff sie nach dem Revolver in ihrer Tasche.
Bald haben wir es geschafft.
Nur wenige Meter von Zoés Versteck entfernt, in dem alten Salles des Gardes, dem Saal der Wachen, saß ein Mann auf einem einfachen Holzschemel und betrachtete das Spitzbogengewölbe über sich. Er trug die blau-weiße Jacke und Kappe des klösterlichen Sicherheitspersonals. Die Kleidungsstücke waren gebraucht und ein bisschen zu groß für ihn – sie gehörten dem Chef des Sicherheitsdienstes, der mit seiner Frau in einem der Fachwerkhäuser an der Grande Rue wohnte. Gestern Abend hatte der Mann auf die Klingel an der Eingangstür des Hauses gedrückt, den Europol-Ausweis und die beiden internationalen Haftbefehle für Parker und das Mädchen in den Händen. Der Wachmann hatte ihn bereits erwartet und persönlich die Tür geöffnet. Kurz zuvor hatte ihn die Klosterleitung über eine Anfrage aus Paris instruiert. Ein deutscher Kommissar namens Helmuth Fuggs von Europol brauchte dringend Hilfe bei der Zielfahndung nach einem deutschen Pärchen. Anlagebetrüger, die Gelder in Millionenhöhe unterschlagen haben sollen. Die französische Polizei war im Bilde und unterstützte die Europol-Fahndung selbstverständlich. Absolutes Stillschweigen war zu wahren.
Bereitwillig hatte der Wachmann ihm die gebrauchten Sachen überlassen und sogar ein Hotelzimmer auf dem Klosterberg besorgt, während seine Frau einen Coc au Vin für den geheimnisvollen Gast zubereitete. Um sieben Uhr heute Morgen hatte der Mann dann seinen Posten im Wachsaal bezogen. Gegen neun Uhr hatte er Parker die Abtei betreten sehen. Kurz danach hatte er sich nach dem Mädchen umgeschaut. Sie stand genau da, wo er es vermutet hatte: in einer kleinen Nische aus Mauerresten, von der sich die Grande Rue gut einsehen ließ. Zufrieden war er zurück in den Wachsaal geschlendert und hatte dort auf den Minister und den Bodyguard gewartet.
Als die beiden Männer endlich das Burgtor passierten, hatte er den Blick zur Decke erhoben. Die Operation lief genauso harmonisch und exakt wie die steinernen Linien der Spitzbogen über ihm. Entschlossen senkte er nun das Haupt und verließ wortlos den Wachraum. Er näherte sich der Mauernische und achtete behutsam darauf, nicht von dem Mädchen bemerkt zu werden. Aus der Tasche zog er ein Stofftuch und ein kleines Glasfläschchen, dessen Verschluss er vorsichtig im Gehen öffnete. Erst im allerletzten Augenblick würde sie ihn sehen – und dann war es zu spät. Das außergewöhnlich ebenmäßige, fein geschnittene Gesicht des Mannes verzog sich zu einem Lächeln.
Kapitel 51
Angespannt schritt Parker vom ehemaligen Refektorium
Weitere Kostenlose Bücher