Der Königsberg-Plan: Thriller (German Edition)
abgezogen, und auch die elektronische Wohnungs- und Telefonüberwachung war unterbrochen worden.
Und selbst Stunden später war das BKA noch nicht einmal in der Lage, ihr zu melden, von wem die fatale Weisung stammte. Der Abzug des Überwachungsteams, so konstatierte der Verfasser des Berichts, erfolgte aufgrund einer mit der Staatsanwaltschaft abgestimmten Anordnung des Innenministeriums. Um genau 22:09 Uhr war die mysteriöse Meldung als vorschriftsmäßig codierte digitale Nachricht vom BKA-Computer empfangen, entschlüsselt und als dringliche Weisung für die Einsatzleitung identifiziert worden. Keine zwanzig Minuten nach dem Eingang der Anordnung über das BKA-Intranet hatten sich die Polizisten bereits vollständig zurückgezogen.
Eine Nachfrage beim Innenministerium am heutigen Morgen hatte ergeben, dass weder das Ministerium noch die Staatsanwaltschaft von der nächtlichen Weisung Kenntnis hatten. Gleich darauf waren die Computerfachleute des BKA angerückt und suchten seitdem vergeblich nach einem geheimnisvollen Hacker, der jedoch offenbar keine digitalen Spuren hinterlassen hatte. Andere Beamte fahndeten nach einem Maulwurf in den Reihen der Polizei oder des Ministeriums.
Alles bisher ergebnislos.
Ratlos schob sie das Dokument von sich, wobei ihr Blick auf das Bildnis der russischen Zarin Katharina der Großen fiel. Sie hatte den Stich mit ins Kanzleramt genommen, wo er nun ihren Schreibtisch zierte. Die machtbewusste deutsche Prinzessin, die ihren eigenen Ehemann, Zar Peter III., gestürzt hatte und so zu einer der mächtigsten Frauen Europas im achtzehnten Jahrhundert aufgestiegen war, war schon seit langem ihr großes Vorbild. Nie hätte sie sich vorstellen können, dass die Entscheidungen der Zarin einmal auch ihr eigenes Handeln bestimmen könnten. Geschichte wiederholt sich nicht, dachte sie, aber sie sendet offenkundig Grüße aus der Vergangenheit: überraschende, ironische und nicht selten zugleich äußerst bedrohliche.
Sie streifte die flachen Schuhe ab und lehnte sich mit geschlossenen Augen zurück in ihren Stuhl. Sie dachte an Parker. Was vor ein paar Tagen nur eine vage Idee gewesen war, könnte sich möglicherweise jetzt zu einem ernsthaften Plan auswachsen, einem Plan, der auf nichts anderem als Verzweiflung gründete. Falten bildeten sich auf der Stirn der deutschen Regierungschefin, als sie ihre Lider wieder öffnete.
Ihr abwesender Blick fiel auf die drei Schachfiguren, die sie im vorderen Teil des Raums vor dem Fenster hatte aufstellen lassen. Eine über einen Meter hohe weiße Dame, die von zwei Bauern begleitet wurde. Die Kanzlerin erhob sich von ihrem Lederstuhl und näherte sich auf Socken dem Wandschrank aus rötlich schimmerndem Mahagoniholz auf der anderen Seite des Büros. Sie öffnete eine Klappe, und zum Vorschein kam ein Schachspiel aus altem Eibenholz .
Ihr Vater hatte es ihr als Fünfjähriger geschenkt, und sie hatte sich seitdem nicht mehr davon getrennt. Selbst als sie als Jugendliche per Anhalterin durch den Kaukasus bis nach Tiflis gereist war, hatte sie die weißen und schwarzen Holzfiguren in ihrem Rucksack bei sich getragen.
Nachdenklich studierte sie die fein säuberlich aufgereihte Phalanx der weißen Bauern, die scheinbar nur auf ihren Befehl wartete, um loszuschlagen. Fast zärtlich berührte sie eine der Figuren, nahm sie auf und drehte sie in der Hand. Sie liebte dieses Spiel, bei dem die richtige Mischung aus Berechnung und Instinkt über Sieg oder Niederlage entschied.
Viele lange Nachmittage und Abende hatte ihr Vater sie geduldig in die Geheimnisse des uralten Spiels eingeweiht. Und sie war, wie immer in ihrem Leben, eine ausgezeichnete Schülerin gewesen.
Ein verschmitztes, kaum sichtbares Lächeln huschte erstmals an diesem Morgen über ihr Gesicht. Erinnerungen stiegen plötzlich auf, und sie sah das siebenjährige Mädchen vor sich, das sie einmal gewesen war und das mit weichen Knien und heißen Wangen versuchte, den Vater auf dem Schachbrett zu besiegen. Sie war in der Defensive, und die schwarzen Figuren des Vaters rückten unaufhörlich auf den weißen König zu. Aber einem ihrer Bauern war es gelungen, weit in die gegnerische Hälfte einzudringen. Der Vater hatte der schwachen Figur im heillosen Durcheinander ihrer hoffnungslosen Stellung keine Beachtung geschenkt, und sie hatte all ihren Mut zusammengenommen und erst ihren letzten Läufer und dann noch einen mächtigen Turm geopfert, nur um ihren Bauern noch ein Feld weiter nach vorne
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