Der Königsschlüssel - Roman
weil ihre Beine länger geworden waren und sie so besser sitzen konnte.
Als sie endlich das Bett in der richtigen Höhe hatte, öffnete
sich die Tür und ein Mädchen in einem langen blauen Faltenrock und einer weißen Bluse stand im Türrahmen. In der Hand hielt sie eine Pergamentrolle.
»Kassia!«
»Hallo Vela.« Kassia lächelte, kam herein und umarmte Vela. Dann setzte sie sich ihr gegenüber auf das zweite Bett.
Auch Kassia hatte sich kaum verändert. Natürlich war sie älter geworden, das Gesicht vielleicht ein klein wenig schmaler, aber ihr dunkelblondes Haar war wie stets zu einem damenhaften Knoten gedreht, der von einer silbernen Spange gehalten wurde - und noch immer redete sie furchtbar gern und beinahe ohne Atem zu holen.
»Es ist wirklich schön, dich mal wiederzusehen, Vela, ich hatte schon Vater nach dir gefragt, aber der kann sich das ja nicht alles merken, sagt er immer nur, deshalb habe ich dann deinen Vater gefragt, und der hat mir gesagt, dass du ganz bestimmt wieder zur Zeremonie kommst, schließlich machst du das jedes Jahr, nicht wahr? Ich bin sicher, wir können in den nächsten Tagen noch einiges zusammen unternehmen, ich muss nur sehen, wie ich alles schaffe, ich habe nämlich jetzt immer sehr viel zu tun, seit ich bei dem Chronisten in der Lehre bin, und da muss ich mich anstrengen, weil Vater doch erwartet, dass ich gute Zeugnisse bekomme, damit ich später einmal die Kanzlei übernehmen kann, und dafür muss ich eben lernen, aber wir werden schon Zeit finden, nicht wahr?«
Nein, es hatte sich wirklich nichts geändert.
Vela kannte Kassia seit Jahren. Weil die Zimmer im Schloss während der Schlüsselzeremonie knapp waren, hatte man sie bei ihrem ersten Besuch kurzerhand zu der gleichaltrigen Kanzlertochter gesteckt. Dabei war es dann geblieben. Kassia schien
nicht viele Freunde zu haben und war jedes Mal aufgeregt, wenn Vela ihren Vater besuchte.
Es dauerte einen Moment, bis Vela bemerkte, dass das Mädchen tatsächlich schwieg und eine Antwort erwartete. Was hatte sie bloß gefragt? Irgendwo in der Mitte des Redeflusses hatte Vela den Faden verloren.
»Hallo? Vela? Geht es dir gut? Soll ich den Hofarzt holen lassen, damit er dir eine Arznei gibt? Oder dich schröpft! Oder einen Aderlass macht. Das hilft, weißt du. Ich erinnere mich noch genau, als die Cousine der Schwester von Erestas Tante bei einem Spaziergang zu Ehren von Ganther, einem am Hofe wohlgelittenen …«
»Es geht mir gut, Kassia, wirklich. Ich bin nur müde von der Reise.«
»Ach so, na gut, dann...«
Vela stand auf, um ihre Sachen aus dem Reisesack in den kleinen Schrank neben ihrem Bett zu räumen. »Sag mal, Kassia, gehst du eigentlich gern zu dem Chronisten?«
Das Mädchen setzte sich auf Velas Bett und sah ihr beim Auspacken zu, während es wieder mit einem Redeschwall begann: »Mein Vater sagt, dass es eine wichtige Aufgabe ist und dass ich stolz darauf sein kann und dass ich viel lernen muss, damit ich später weiß, wie man die Geschichte richtig aufschreibt, und ich muss dann alles festhalten, alle großen Taten, die in unserem Reich geschehen, damit die Menschen, die nach uns kommen, einmal wissen, wer sich um das Reich verdient gemacht hat, das ist dann fast so etwas wie Unsterblichkeit, hat Vater gesagt, und er wäre sicher sehr enttäuscht, wenn ich nicht gut bin in meiner Lehre, aber das muss er nicht, weil ich wirklich jeden Tag hingehe und gut aufpasse und fleißig lerne und …«
»Ja, schon klar, aber machst du es auch gern?«
Kassia sah sie stumm an, die Hände im Schoß, die Stirn in Falten gelegt. Offenbar verstand sie die Frage nicht.
Nach einem Seufzer sagte Vela: »Schon gut, spielt keine Rolle«, und Kassia lächelte wieder.
Gerade als Vela erneut etwas sagen wollte, hörte sie draußen die Zahnräder der goldenen Aufzuggondel knirschen, die von kräftigen Dienern im Keller hoch- und runtergekurbelt wurde. Sie sprang vom Bett, riss die Tür auf und sah ihren Vater mit dem Kanzler eben am Ende des Gangs auftauchen. Sie hatte also richtig gehört. Ihr Vater redete auf den Kanzler ein, aber sie konnte nicht verstehen, worum es ging. Sie sah nur, wie der Kanzler die Stirn in Falten zog, genau wie seine Tochter.
Nach dem König war der Kanzler der zweitwichtigste Mann im Land, er kümmerte sich um all die Sachen, um die sich der König nicht kümmern konnte, weil die Zeit einfach nicht reichte. Jeden Tag strömten Händler, Bauern und andere Untertanen in die Stadt und den Palast,
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