Der Koffer
kleinen Mundes auf den Lippen. Sie kennt außer Rhett keinen Mann, dessen Mund einen so nachhaltigen Eindruck hinterlässt. Sie mag seinen Mund. Sie mag seine Küsse, die einen jedenfalls, die Wegschubsküsse für Abschied und Aufbruch. Die anderen, die nassen, geilen, bohrenden, die sie in die Enge treiben, die sie an die Wand nageln, die Zungenfickküsse, die mag sie nicht. Nicht mehr.
Sonnie nimmt die Schallplatte aus dem »Lady Baltimore« und wäscht sie mit warmem Wasser ab, sanft streicht sie über die Rillen, von denen sich die Schmutzverkrustung nur langsam löst und den Blick freigibt auf unzählige Kratzer.
Sei doch endlich glücklich!
Der Wasserkessel pfeift, erst heiser, dann schriller. Er pfeift Sonnie in den Alltag zurück.
DRITTES KAPITEL
Sonnie in der Subway. Sie hält die New York Times wie einen Hund auf dem Schoß. Die Sonntagsausgabe. Kiloschwer. Sonnie betrachtet einen Aufkleber am Fenster: »Mein Bush wäre ein besserer Präsident.« Sonnie betrachtet die anderen Fahrgäste. Sie sucht nach einem Gesicht, das dem des Koffermanns ähnelt. Baumrindenfarben. Mit hohen Jochbeinen. Mit Lippen, die einen hellgrauen Kreis bilden. Der zahnlose Chinese mit Cowboyhut. Die fette Frau, die fast drei Sitze einnimmt und eine Wollmütze mit der Aufschrift »New York Princess« trägt. Der orthodoxe Jude mit Hutschutz aus durchsichtiger Folie. Einen Moment zu lange bleibt Sonnies Blick am Gesicht einer bildschönen Latina hängen. Dann verzerrt eine grüne Kaugummiblase es zur Fratze.
Als Grund für ihr Hierbleiben hatte Sonnie damals angegeben, in New York säße in jeder Subway die ganze Welt. New York hatte sie mit der Wucht einer Benetton-Werbung getroffen.
Niemand von ihren deutschen Verwandten hatte sie verstanden, und Sonnie hatte keine weiteren Anstalten gemacht, zu begründen, warum sie die vom Vater gewünschte Universitätskarriere aufgegeben hatte, warum sie ausgewandert war. Ihre Mutter vermutete, es stecke ein Mann dahinter. Und Sonnie unternahm wenig, umdie Vermutung zu zerstreuen. Ihre Beziehung zu New York anderen zu erklären, die nach anderen Maßstäben anderswo leben, ist bis heute unmöglich. Ihre Beziehung zu New York sich selbst zu erklären, ist bizarr: Es ist eine Sado-Maso-Beziehung, eine lesbische Sado-Maso-Beziehung, in der Sonnie die Unterworfene ist.
Sonnie ist New York hörig.
Die Queen ist eine strenge Herrin.
Wie oft hat die Queen Sonnie weggeweht, platt gemacht, niedergebügelt, hat sie abgetrieben, ausgepeitscht, eingesperrt, auf jedwede Art bestraft, einfach nicht zurückgeliebt. Wie oft hat die Queen versucht, Sonnie zu überfahren, zu erfrieren, zu braten, mit Geräuschen, Gerüchen, Albträumen, Ängsten in den Wahnsinn zu treiben. Wie oft schon war Sonnie eifersüchtig gewesen, eifersüchtig bis zur Besinnungslosigkeit, weil New York sie mit jedem, der vorbeikam, betrog, weil jeder glaubte, ein Recht auf sie zu haben, weil jeder, der seinen Fuß auf ihr Terrain setzte, nachher tat, als hätte er sie gehabt. Wie oft standen Sonnie und die Queen deswegen kurz vor der Trennung. Wie oft schon in den letzten zwanzig Jahren wollte Sonnie einfach weggehen, nicht um woanders zu sein, nur um nicht mehr in New York zu sein, um die Queen zu bestrafen, und blieb doch, weil es nur sie selbst wäre, die bestraft würde. Wie sie es auch dreht und wendet, sie wird bestraft.
Und nun sind Sonnie und die Queen schon so lange zusammen, immer in Veränderung, in Bewegung, auf Gedeih und Verderb ineinander verstrickt. Sie werden wesentlicher, sie wachsen aneinander durch Reibung und Schmerz. Manchmal ist Sonnie plötzlich glücklich,grundlos glücklich. Jetzt zum Beispiel, in der sich ruckelnd bewegenden alten Subway, erleben sie, New York und Sonnie, jenen Moment des Stillstands und der vollkommenen Harmonie, von dem man nie weiß, wann er kommen wird, wie lang er bleiben wird, in welchem Zustand er einen zurücklassen wird. Deswegen ist Sonnie immer noch in New York. Sie wartet auf Momente wie diesen.
Erst jetzt wird ihr bewusst, dass sie den Juden anstarrt. Er sitzt ihr direkt gegenüber. Er ist in ein zerfleddertes Gebetsbuch vertieft. Sie erschrickt. Im abweisenden Gesichtsausdruck, in der weltabgewandten Körperhaltung des alten Mannes glaubt sie, ihren Vater wiederzuerkennen, Dr. phil. Edgar Splettstösser, den Rührmichnichtan, der keine Umarmung wollte, sie nicht auf seinen Schoß klettern ließ, sie nie küsste. Die Hand sollte sie ihm geben, bevor sie ins Bett ging. Das
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