Der Koffer
Jahrtausend Füllfederhalter noch klecksen.
Sonnie steigt an der 72. Straße aus. Die neue Subway-Station ist eröffnet worden. Die Umbauarbeiten haben ewig gedauert. Solange Sonnie in New York ist, jedenfalls hat es sich so angefühlt. Sonnie beschließt, dass die Eröffnung der neuen Subway-Station eine neue Epoche einläuten wird. New York ist nur zu ertragen, wenn man es in Gitter, in Abschnitte, in Zeiträume einteilt, nur häppchenweise. Sonnie hat also eine neue Epoche beschlossen. Aber was wird ihr diese Epoche bringen? Was hat die Queen diesmal vor? Was, wenn sie mit Rhett eine Wohnung an der Upper West Side genommen hätte?
Hättehättehätte.
Die Upper West Side ist, wie jeder Stadtbezirk in Manhattan, eine Stadt in der Stadt. Rhett, der sich hier wohl fühlt, der hier viele Jahre lang mit Joy lebte, für den esmorgens ein Spaziergang durch den Central Park war, zur Columbia University zu gehen, hatte darauf bestanden, dass sie sich hier eine Wohnung suchen. Da aber Sonnie den Kontakt zum Makler hielt, hatten sie hier keine gefunden. Sonnie ist kein Upper-West-Side-Typ. Zu viele Hunde, Kleinkinder, Blockwarte, Kleingartenverbände mit Vereinssitzungen.
Sie riskiert ungern, Joy in einem der zahlreichen Feinkostläden am Upper Broadway in die Arme zu laufen, aber als sie am Fairway vorbeiläuft, geht sie rein. Sie saugt tief den Duft ein, den Mix aus Kräutern, Gewürzen und Gebratenem. Sie hat unbändigen Appetit auf Kohlrabi. Plattrunde, weißgrüne junge zarte Kohlrabi, roh, geschält, geviertelt. Sie schreitet die Obst-und Gemüseregale ab.
Red Peppers, Green Peppers, Orange Peppers, Yellow Peppers, Strawberries, Blueberries, Blackberries, Raspberries, Cranberries, Red Seedless Grapes, Green Seedless Grapes, Black Grapes, Chick Peas, Snow Peas, Sprout Beans, Flat Beans, Cava Beans, Red Potatoes, Yokon Gold Potatoes, Idaho Baking Potatoes, Red B Potatoes, Yukon C Potatoes, White C Potatoes, Horseradish, Anise, Broccoli, Endive, Lettuce, Radicchio, Baby Spinach, Red Oak, Green Oak, Baby Lollo Rosso, Ruccola, Red Radishes, Scallions, Squash, Yellow Squash, Spanish Onions, Red Onions, Yellow Onions, Vidalia Onions, Yellow Carots, Baby Carots, Zucchini, Bi-Colored Corn, Cauliflowers, Cucumbers, Seedless Cucumbers, Tomatos
Kein Kohlrabi. In Chinatown gibt es bestimmt Kohlrabi, denkt Sonnie. Sie liebt Chinatown für seine Bodenständigkeit und Emsigkeit, für seinen Gestankund seine Obstpreise, es ist ein wesentlicher Körperteil von New York, ein tragender.
Columbus Avenue Ecke 75. Ein Straßenstand mit Jesus-Postern und erbaulichen Broschüren. »… it’s Alpha and Omega’s Kingdom come. And the whirlwind is in the thorn tree. The virgins are all trimming their wigs…« , singt ein bulliger Schwarzer. Um seinen Hals hängt eine Gitarre. An der Gitarre ist ein Stars&Stripes-Aufkleber. Er fixiert Sonnie, nähert sich ihr und flüstert: »Do you feel me?« Ein feuchtes Pappschild steht hinter ihm an der Wand: WOMEN DESERVE BETTER THAN ABORTION.
In der Redaktion herrscht das übliche Durcheinander. Sonnie verjagt eine Praktikantin mit pinken Kreolen und Schuhen wie Spitzhacken. Sonnie loggt sich ein. Sie ruft die Filmkritik auf, die sie sich ins Büro gemailt hat, einen Verriss, den sie vermutlich wird verteidigen müssen. Sie liest letztmals Korrektur. Zu ihrer Befriedigung findet sie noch einen Tippfehler. Sie sendet die Datei dem Chef vom Dienst. Der Chef vom Dienst ist Scorsese-Fan, aber kein Fan von ihr.
Chola sitzt an ihrem Platz, ein hart erkämpfter Fensterplatz mit Panorama auf die Strawberry Fields. Chola starrt auf den Bildschirm. Sie trägt ein selbst entworfenes Abendkleid. Sie trägt immer selbst entworfene Abendkleider, sie schläft sogar in ihnen. In ihrem Mundwinkel hängt eine Zigarette. So würde Sonnie sie in Erinnerung behalten, im Abendkleid mit Kippe im Mundwinkel und dem Pony, der aussieht wie eine hochgerutschte Mütze. Sonnie fotografiert Chola mitder Digitalkamera, die Rhett ihr zum 38. Geburtstag geschenkt hat.
»Ein Belegfoto, für Bloomberg.«
»Sollten die mir jemals ernsthaft das Rauchen verbieten im Büro, dann kündige ich«, knurrt Chola im Damenbass.
»Mach das bloß nicht, als Freie geben sie dir nicht mal einen Computer!«
»Nix Freie. Fahr ich eben einen Schulbus. Oder Taxi. Oder spiel wieder Schlagzeug.«
Chola ist über irgendwas sauer. Sie ist meistens über irgendwas sauer. Der Filter ihrer Zigarette ist mit blutrotem Lippenstift beschmiert. Blutrot
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