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Der Koffer

Der Koffer

Titel: Der Koffer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Else Buschheuer
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von ihrer Mutter in zischendem Befehlston vorgetragene »Sag dem Vater Gute Nacht« meinte, dass sie in sein Arbeitszimmer gehen und ihm die Hand schütteln sollte. Fast schien es ihr damals, als drohe die Mutter mit dem Vater: Wenn du nicht spurst, musst du dem Vater die Hand geben. Nicht irgendeine Hand indessen, »das schöne Händchen, Sonja!«.
    Der Jude sieht auf, so wie ihr Vater aufgesehen hatte, aus seinem Bücherberg, ganz von der Ferne kam sein Blick unter damals schon grauen Wimpern, als sei ihm dieses dicke Kind unbekannt, als sei es nicht befugt, sich in seinem Zimmer aufzuhalten, als drohe eine weitere erzieherische Maßnahme.
    Ich leg dich gleich übers Knie.
    Nur für wenige Momente richtete er seine höfliche Aufmerksamkeit auf Sonnie, und nie ganz. Und während sie ihm ihre Hand hinhielt, während er, die Lesebrille auf der Spitze seiner großen Nase, sie etwas fragte, das keine Kenntnis ihrer Person erforderte, nämlich ob sie die Hausaufgaben gemacht oder das Abendbrot aufgegessen hätte, überrieselte sie Scham, als sei bereits ihre weiche klebrige Kinderhand für den Vater eine Zumutung.
    Es war, als strenge sich Sonnies Vater an, das Gegenteil seines Vaters zu sein, an den sie sich nun wieder glasklar erinnert: Er hieß Fritz und war ein kräftiger rotbäckiger Naturbursche, der sie kicherndes Bündel immer durchkitzelte, kniff, in die Luft warf, bevor er sich von einem Tag auf den anderen niederlegte und starb. Bleib, wie du bist, waren seine letzten Worte gewesen. Sie stellten Sonnie vor eine unlösbare Aufgabe. Sie wusste ja nicht, wie sie war. Nur zu gern wäre sie wenigstens die geblieben, von der ihr Großvater dachte, dass sie es sei, aber auch das wusste sie nicht. Genauso, wie es ein Rätsel war, dass der Großvater und die Großmutter zusammengefunden hatten, die böse kleine Hutzelfrau und der gutmütige klobige rotbäckige Hüne, der ihr nichts gut genug tat, nicht mal sterben. Und wie war aus dem Großvater ihr Vater hervorgegangen, der blutarme, gelehrte, immer abwesende, den sie lieber nicht anfassen, um nichts bitten wollte.
    Die Subway bleibt mitten auf dem Gleis stehen. Sonnie sucht die gegenüberliegende Sitzreihe ab. Jeder einzelne Passagier kann ein Hinweis sein, ein Hinweis, sie weiß gar nicht worauf.
    Der Lautsprecher rauscht. Der Zugführer bedankt sich für die Geduld der Fahrgäste, noch bevor sie sie unter Beweis stellen können. Der Jude ist inzwischen ausgestiegen. Gegenüber sitzt nun ein kleines Mädchen.
    Es dreht den rechten Fuß im Gelenk.
    Es dreht den linken Fuß im Gelenk.
    Die Gelenke knacken.
    Der Sitz knarrt.
    Sonnie fühlt sich nicht belästigt, so wie sie sich sonst immer in Gegenwart von Kindern belästigt fühlt. Sie erinnert sich an den Brief. Sie wühlt in ihrer Handtasche danach. Sie zieht den kleinen karierten Zettel heraus, der über den Atlantik gereist ist, von Paris nach New York, vor vielen Jahren. Er ist undatiert. Er ist gerichtet an den Koffermann, den internationalen Trompeter, den Hotdog-Verkäufer, den fernen Vater. Vielleicht hatte die Mutter des kleinen Mädchens gesagt, los, Valerie, setz dich hin, schreib einen Brief, wenigstens einmal im Jahr. Immerhin ist er dein Vater!
    Das schöne Händchen, Sonja!
    Eine runde verspielte Mädchenschrift. Beide Seiten mit Füllfederhalter beschrieben: Cher Papa, lieber Papa. Acht Zeilen vorn, sechs hinten. Und eine Teufelsfratze. Und eine ungelenke Unterschrift, Valerie.
    Der Koffermann hat eine Tochter. Wieder befällt Sonnie das klamme Gefühl in der Leistengegend. Der Mann pflanzt sich fort, denkt sie, und dann geht er weg. Die Frau pflanzt sich fort und ist gefangen.
    Viele Herzen hatte Valerie dem Vater nach Kleinmädchenart unter ihren Namen gemalt. Weil sie ihn liebte? Weil sie nicht wusste, wie den Rest des Blattes füllen? Siemuss ungefähr im Alter von Sonnies Gegenüber gewesen sein, als sie den Brief schrieb. Sonnie sieht ihrem Gegenüber ins Gesicht. Das Gesicht ist prall und orange wie ein Luftballon. Es hat noch nichts Böses erlebt.
    Kinder, denkt Sonnie, was ist das? Was soll das? Wie spricht man damit?
    As I was going to St. Ives I met a man with seven wives. Each wife had seven sacks, each sack had seven cats, each cat had seven kits. Kits, cats, sacks, wives, how many were going to St. Ives?
    Das Mädchen entnimmt seiner Schultasche ein Pomadetöpfchen. Es fettet seine Lippen ein. Am Finger des Mädchens ist ein Tintenklecks. Es beruhigt Sonnie, dass auch im dritten

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