Der Koffer
sonntags kein Wein im Haus war, wenn alle Liquor Stores geschlossen waren, war Sonnie übel gelaunt, fahrig, schwermütig, und sie schwor sich, nächstens einen Vorrat anzulegen. Der Vorratsgedanke hatte die restlichen Dämme gebrochen. Sie kaufte nun täglich eine Flasche Weißwein, aber mit dem Gefühl der Panik, dass der Rausch nicht lange genug halten wurde. Vielleicht eine größere Flasche, eine Zwei-Liter-Flasche? Das war nun wieder peinlich. Sie begann, in wechselnden Liquor Stores Wein zu kaufen, zwei Flaschen täglich, und sie begann, die leeren Flaschen diskret zu entsorgen, um nicht unnötige Fragen zu provozieren. Und nun sollte Rhett Alkoholiker sein? Rhett?
Er hat sie nie ermahnt, weniger zu trinken. Er hat aber auch nie mitgetrunken. Er trank nur Tee, grünen Tee, stilles Wasser und literweise Pepsi. Ab wann ist der Mensch Alkoholiker, denkt Sonnie, ab wie viel Milliliter reinen Alkohols täglich? Wie hoch muss der Anteil im Blut sein? Sie schleicht am Aufzug vorbei, läuft die Treppen hoch. Sie läuft schnell. Sie braucht ein Glas Wein. Sie läuft vorbei an einem kiffenden Maler vor einer dick beschmierten Staffelei.
Impasto.
»Hi«, sagt sie.
Der Maler ignoriert sie.
»Ich sagte ›Hi‹«, wiederholt sie.
Der Maler dreht sich um. Er trägt ein rotes Holzfällerhemd und eine bekleckerte Latzhose. Er saugt an seinem Joint. Sein Blick gleitet an ihr ab und auf. Er hat ein hageres Gesicht mit langem Kinn. Dunkle und engzusammenstehende Augen. Er sieht aus wie Nick Knatterton.
»Hab gehört«, sagt er. »Und? What’s your problem?«
Punks like you, that is my problem.
»Sie könnten wenigstens nicken.«
»Ich heiß ja nicht Nick«, sagt er.
Sonnie schließt die Wohnungstür auf. Arschloch, denkt sie. Bekifftes, ignorantes, unbegabtes, hässliches Arschloch. Zweimal abgeschlossen. Niemand da. Sonnie tritt ein. Erleichtert. Sie rauscht durch den Raum und dreht die Dusche auf. Das Wasser ist kühl. Es wird langsam wärmer. Sonnie sieht sich um. Alles ist aufgeräumt, das Bett, der Abwasch gemacht. Rhett hat seinen Trenchcoat aus der Reinigung geholt. Vor dem Bett steht ein Projektor. Sie schaltet ihn ein, aber die volle Rolle dreht sich nur um sich selbst, das Filmende flattert. Sie weiß, wie ein Projektor funktioniert. Sie war mit einem Kinobesitzer verheiratet. Sie hat als Filmvorführerin gearbeitet. Sie löst die Halterung. Sie spult. Sie wechselt die Rollen. Der Staub. Der Staub tanzt im Licht. Sonnie lässt die Arme sinken.
Die Häkeldecke über der Sofalehne. Bunt. Viele bunte Häkelquadrate. Die Kissenbezüge. Bestickt. Geknüpft. Die Blumentopfbezüge. Genäht. Mit Volants. Das gute Kaffeegeschirr auf dem Tisch. Zwiebelmuster. Die weiße, gestärkte Tischdecke. Die Silberlöffel. Donauwelle. Russischer Zupfkuchen. Die Großmutter stammt aus Schlesien. Sie redet immer so komisch. Es riecht nach gutem Bohnenkaffee aus dem Westen.
Sonnie hat die Sahnetorte mit einer 40 aus Schokoladencreme geschmückt. Die Mutter hat Geburtstag. Die Mutter wird vierzig. Sonnie ist sechzehn.
»Ging es noch größer?«, sagt die Mutter. Sie zeigt auf die Schokoladenvierzig. Sonnie versteht nicht. Der Großvater ist schon tot. Das Meerschwein ist schon tot. Der Vater ist im Arbeitszimmer.
»Sonja, nimm die Ellenbogen vom Tisch.«
»Sonja, mach deine Haare zusammen.«
»Sonja, kau nicht an den Nägeln.«
»Sonja, bring Vati Kuchen.«
Sonnie entkorkt die erste Flasche. Mittagssonne flutet den Raum. Sonnie sieht auf die Uhr. Kurz nach eins. Altweibersommer, denkt Sonnie.
Sie setzt die Flasche an.
Sie trinkt zehn Schlucke.
Sie schnappt nach Luft.
Der Alkohol fließt direkt in die Blutbahn.
Ohne Frühstück geht es schnell.
Ich bin ein altes Weib im Sommer, denkt Sonnie. Ein altes, loses Weib im Sommer. Im Herbst. Im Herbst meines Lebens. Die Vorstellung, ein altes, loses Weib zu sein, eines, das sich mittags betrinkt und Spontansex mit Fremden hat, gefällt ihr. Jetzt Musik. Sie drückt auf EJECT, der CD-Player spuckt eine von Rhetts Jazz-CDs aus. Sie legt das 3. Rachmaninoff-Konzert auf, den ersten Satz, Allegro ma non tanto. Sie drückt auf PLAY. Sie dreht VOLUME auf Anschlag.
Rhett spielt Klavier. Auf jedem Spinnenfinger einen Fingerling.
Sonnie sieht wieder die Farbkleckse.
Die Farbkleckse bewegen sich.
Blutrote Farbkleckse.
Ein Déjà-vu – sie hat das schon gesehen.
Blut, das sich in Wasser auflöst.
Das ist Musik für aufgeschnittene Pulsadern. Sie berührt ihre Narben. Vielleicht
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