Der Koffer
der Straße rumpelt die Müllabfuhr. Das gefilterte Licht eines leuchtenden Herbsttags fällt durchs Fenster. Sonnie entrollt sich. Es klingelt wieder.
Allons enfants de la patrie, le jour de gloire est arrivé!
Sonnie will sich strecken. Es geht nicht. Der Gipsarm. Wo kommt der Gipsarm her? Wo ist sie? Was ist los? Sie dreht sich um. Das ist nicht Rhett. Neben ihr liegt Chola, auf dem Rücken, die Beine gestreckt, die Händeüber der Brust gefaltet. Wie eine Leiche, eine liederlich geschminkte Leiche. Auf dem Bauch der Leiche liegt die fette Katze. Es klingelt wieder. Die Leiche schmatzt und macht ein Auge auf.
»Siehst aus wie Frankensteins Braut«, sagt Sonnie und grinst. Dann fällt ihr Rhett ein, und sie grinst nicht mehr. Dann fällt ihr Clooney ein, und sie grinst wieder. Neue Männer sind ein Rausch, alte eine Fessel. Derselbe Mann kann erst Rausch, dann Fessel sein, jedoch nie wieder Rausch. Jedenfalls nicht für dieselbe Frau.
»Guten Morgen hätt’s auch getan«, brummt Chola und dreht sich um. Die Katze miaut und springt vom Bett.
»Willst du nicht aufmachen?«
»Erwarte niemand.«
Es klingelt wieder. Chola rappelt sich hoch.
»Scheiß Neugier«, sagt sie, rafft ihr wie ein Abendkleid geschnittenes Nachthemd und kämmt mit der Hand durch den Pony. Sonnie stellt fest, dass sie sich vor Chola fürchtet. Chola leidet an starken Stimmungsschwankungen. Sie gehört zu den Leuten, die einen Raum betreten und brüllen: »Sprecht mich bloß nicht an!« Sonnie erinnert sich an unzählige Abende, an denen Chola vor Wut kochte, weil sie nichts anzuziehen hatte. Jedes Trostwort, jeder Vorschlag macht sie nur noch wütender. Es steht außer Zweifel, dass, falls Chola schlechte Laune hat, irgendjemand dafür büßen wird. Hoffentlich der Türklingler.
Sonnie verkriecht sich unter der Bettdecke und döst wieder weg. Im Halbschlaf sieht sie grüne Augen. Es sind Rolfs Augen. Mit Rolf wurde in Sonnies Leben dieWeiche für ältere Männer gestellt. Oder war sie vorher schon gestellt? Rolf, verheiratet, Vater des ersten Jungen, der sie küsste, und Liebe ihres Lebens. Wie stark sie diese Worte damals empfunden hat, nie formuliert, nur empfunden, zum Sterben stark. Geblieben ist nichts als eine Hülse. Man kann Dinge wie diese nur aussprechen, wenn sie nicht wahr sind, denkt Sonnie. Man kann Worte wie diese nicht sagen oder denken ohne Spott.
Rolf. Eine schemenhafte Gestalt, ein grauer Schnurrbart, eine Halbglasbrille, grüne Augen. Ein Hauch von Formalin und Lüge.
Rolfs grüne Augen verändern ihre Form. Sie werden klarer, katzenhafter, mit dunklen Rändern. Sein Gesicht wird ein Frauengesicht. Das Gesicht der
Französin. Sonnie schreckt hoch. Sie wühlt nach der Visitenkarte aus Blech. Sie findet ihr Funktelefon. Sie schaltet es ein. Zwanzig neue Nachrichten. Sie
ruft sie nicht ab. Jetzt hat sie die Visitenkarte gefunden. Sie hält sie in der Hand.
Elvira de Montreux weiß die Zukunft.
Sonnie wählt ohne nachzudenken die Nummer auf der Karte. Es läutet. Jemand nimmt den Hörer ab. Außer einem Knacken passiert nichts. Dann ein Räuspern.
»Elvira de Montreux«
»Guten Tag. Woodhouse. Ich wollte …«
»… einen Termin vereinbaren. Ich weiß.«
Auf der anderen Seite Getuschel, unverständlicher Wortwechsel. Schließlich raschelt es.
»Morgen Abend achtzehn Uhr in meinem Büro? 134. Straße Ecke Malcolm X über ›Balou’s Soulfood‹.«
Sonnie wühlt nach einem Stift. Sie kritzelt die Adresse hinten auf die Visitenkarte. Der Stift schreibt nicht auf Blech. Sie ritzt die Adresse hinten in die Karte.
»In Harlem?«
»In Harlem, Schätzchen. Und komm allein.«
Danach wird der Hörer aufgelegt. Sonnie lässt sich ins Kissen sinken und lauscht ihrem Herzschlag. Was will die Hexe von ihr? Was weiß die Hexe von ihr? Warum hat sie sie überhaupt angerufen? Was hofft sie, von ihr zu erfahren? Wird sie hingehen?
Sonnie sieht auf die Uhr und springt aus dem Bett. Es ist mittags halb zwölf. Sie ist um vierzehn Uhr zum Lunch mit Clooney verabredet. Im »Café Mephisto« in SoHo. Sie rennt ins Bad, in Cholas großem Herrenoberhemd. Erst, als sie bereits pinkelnd auf dem Klo sitzt, fällt ihr auf, dass sie jemand ansieht.
»Guten Morgen«, sagt Pushit, der hinter Chola sitzt. In einem Schaumturm. In der Wanne. Nackt. Chola prustet. Offenbar ist sie gut gelaunt. Sonnie springt auf und drückt den Spülknopf. Sie ist hier nicht zuHause, sie ist nicht mehr jung und ihres Körpers nicht sicher, und sie ist
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