Der Koffer
gegeben zwischen Gabi und Sonnies Mutter. Sie hatten miteinander geplaudert, wenn Gabi Sonnie zur Schule abholte. Sie hatten offenbar Dinge zu besprechen. Sie lächelten einander an. Sie sprachen freundlich übereinander, in Sonnies Anwesenheit, zu Dritten. »Ein angenehmes Mädchen«, sagte die Mutter zur Großmutter über Gabi. »Eine warmherzige Frau«, sagte Gabi zu einer Lehrerin über Sonnies Mutter. Sonnie witterte ein Komplott. Hatten sich die beiden zusammengetan, um ihr zu verstehen zu geben, dass sie im Gegensatz zu Gabi unangenehm sei, dass sie überdies außerstande sei, die Warmherzigkeit ihrer Mutter zu sehen?
Sonnies Gefühle hatten immer wieder gewechselt. Manchmal sah sie Gabi als das Trojanische Pferd, mitdem sie, Sonnie, sich in das Herz der Mutter einschleichen würde. Immerhin war sie von Gabi, die Käse-Schabi genannt wurde, weil sie so gern Schabekäse aß, zur Freundin auserkoren worden. Vielleicht würde das die Mutter überzeugen. Als Käse-Schabi mit achtzehn einen Handwerker heiratete, ein Kind nach dem anderen bekam und sich in der Nähe von Sonnies Elternhaus, niederließ, wurden die Hinweise der Mutter deutlicher. Gabi habe »vernünftige Entscheidungen getroffen«, sich »ein stabiles Fundament gebaut«, während sie, Sonnie, die Kinderlose, Dissertationslose, Männerlose, ins Ausland Geflüchtete, verkorkst sei.
Dann hatte Gabi im Krematorium und bei der Trauerfeier so laut geschluchzt, dass entfernte Bekannte sie für die Tochter gehalten und ihr das Beileid ausgesprochen hatten, während Sonnie mit grimmigem Gesicht im Hintergrund stand. Da hatte sie Gabi gehasst. Sonnie hatte Rot getragen, Gabi Schwarz. Sonnie hatte den Vater nicht umarmt, weil sie glaubte, dass er das ohnehin nicht wollte. Gabi jedoch hatte ihn auf beide Wangen geküsst und ihn auf dem Weg zum Krematorium untergehakt.
Freundinnen, denkt Sonnie.
»Warum hast du mir nicht gesagt, dass du Chola kennst?«
»Deswegen weinst du?« Rhett sagt das in einem Tonfall, als wäre es absurd. »Darum geht es? Das war nichts Ernstes.«
Sonnie sieht Chola und Rhett in der Badewanne. Sonnie sieht Chola und Rhett auf dem alten Parkett. Es tut weh.
Wie kann Chola seit zwei Jahren kein Wort darüber verlieren, dass sie eine Affäre mit Rhett gehabt hat? Hat sie nicht immer wieder gesagt: »Bei Männern würden wir uns nie inne Quere kommen, Mädel«?
Warum haben sie alle einander getroffen?
»Ist mehr als zwanzig Jahre her«, sagt Rhett, als beantworte er Sonnies Gedanken. Sie scheint ihn nicht zu hören. Sie scheint einen internen Erledigungszettel abzuarbeiten.
»Warum hast du mir nicht gesagt, dass du einen Sohn hast?«
Er kann es gar nicht fassen. Er kann gar nicht fassen, was er da hört. Sind denn alle verrückt geworden? Was für einen Sohn?
»Ich habe keinen Sohn«, sagt Rhett tonlos, »ich habe keinen Sohn.«
Es wäre ein Verbrechen an der Natur, an der Vorsehung, an der Menschheit, wenn ich einen Sohn hätte, denkt Rhett. Es wäre ein Verbrechen an dem Sohn.
Wie kommt Sonnie nur darauf?
»Ich habe seinen Brief gefunden.«
»Was für einen Brief? Ich weiß von keinem Brief.«
Sonnie stürzt zu ihrer Handtasche. Sie schüttet sie aus. Triumphierend zerrt sie den Zettel aus dem Haufen, gefaltet wie ein Fächer.
» Dieser Brief!«
Rhett nimmt den Fächer widerstrebend in die Hand. Seine Kuppen betasten nervös die Papierfalten, während er weder den Brief noch Sonnie ansieht, sondern aus dem Fenster hinaus, in die Sonne hinein. Er hat sich wirklich nicht erinnert. Die Analytiker hatten Recht,sein Verdrängungsmechanismus funktioniert hervorragend. Er kann sich unantastbar machen. Er muss sich unantastbar machen. Er ist der Sonnengott, der Sonnenkönig, stark und allmächtig. Nichts und niemand kann ihm schaden.
»Eine Lüge. Ein Verrückter.« Rhett bemerkt, dass seine Stimme gepresst und hoch klingt.
Big boys don’t cry.
Er atmet tief ein und aus. Er wiederholt dieselben Worte tiefer und langsamer.
»Eine Lüge. Ein Verrückter.«
Er legt die Tüte mit den Kohlrabis auf der Spüle ab. Er ist kein Sonnengott. Er wird nie einer werden. Er würde nicht mal in die Vorauswahl kommen.
»Ich kann gar keine Kinder zeugen.«
Sonnie dreht sich um. In Zeitlupe. Ihr Gesicht durchlebt eine Furcht erregende Ausdrucksänderung. Sie steht da, als wolle sie ihm ins Gesicht springen.
»Was? Du kannst keine Kinder zeugen? Das sagst du, nachdem ich Scheiß fünf Jahre lang Scheiß-Temperaturkurven geschrieben
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