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Der Koffer

Der Koffer

Titel: Der Koffer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Else Buschheuer
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wieder auf und steckt den Kopf heraus. Sein Gesicht ist rund und fleckig. Er trägt viele dünne graue Zöpfe im Nacken zusammengebunden.
    Er fixiert Sonnies Brüste, Sonnies Bauch, Sonnies Beine. Er grinst.
    »Wohin, Schneeflocke? Von zu Hause abgehaun? Ärger gehabt?«
    »Ich suche Elvira de Montreux«, sagt Sonnie.
    »Hä?«
    »Der Spiegel des Cyprianus.«
    »Hä?«
    Das Grafenschloss. Die uralten Föhren und Eichen. Der Junker Kuno. Die Armbrust. Die gute Gräfin. Die schöne Stiefmutter. Der kleine Wolf. Der Obrist. Der dunkelrote Fleck über Kunos Herzen. Die vermauerte Sakristei. Das schwere Bahrtuch. Der Spiegel des Cyprianus.
    »Die Wahrsagerin. Schwarze lange Haare …«
    »Ach, die Franzmann-Hexe, ja, die haust hier.« Sein Gesicht verfinstert sich. Er klopft nebenan auf eine dunkle Holzbohle, zieht den Kopf ein und schließt die Tür ab.
    Die Bohle ist ein Stück von einer Tür. Ein Verschlag. Die Tür gibt nach. Sonnie macht einen Schritt ins Dunkle. Sie tastet nach einem Lichtschalter. Es gibt keinen.
    Die Augen der Mutter sehen Sonnie an. Es dauert einen Moment, bis sich Sonnies Augen an die Dunkelheit gewöhnt haben. Die Umrisse erscheinen, die Mutter verschwindet. Sonnie setzt sich auf die untere Treppenstufe und öffnet den Koffer. Sie tastet nach dem Handspiegel. Da bewegt sich was im Koffer. Sonnie zieht die Hand zurück und schreit.
    Ein Hund bellt. Noch einer. Noch einer. Das Treppenhaus hallt vor lauter Hundebellen. Oben öffnet sich eine Tür.
    »Was’n da los? Ist da wer?«
    Hastig wühlt Sonnie weiter. Es bewegt sich nichts. Es war eine Täuschung, sicher war es eine Täuschung. Sie ertastet den Spiegelrahmen, den schweren Knauf. Sie steckt den Spiegel hinten in den Rockbund, unter Rhetts Trenchcoat. Sie schließt den Koffer.
    »Madame de Montreux?«
    »Hier oben, vierter Stock.«
    »Gibt es einen Fahrstuhl?«
    Keine Antwort. Nur Lachen. Das Licht geht an. Es flackert. Graffiti an den Wänden. Sonnie steigt die Treppe hoch, Stufe um Stufe. Der Daumen juckt unterm Gips. Der Spiegelknauf drückt auf die Lendenwirbel. Die Tür ist offen. Eine dicke junge Latino-Frau steht imTürrahmen. Sie ist schwanger. Sie hat lange dunkle Haare mit lila Haarsträhnen, trägt ein enges Kleid und darüber eine Strickjacke. Sie hat kurze Beine. Sie sieht aus wie ein Pinguin.
    »Bist du Laufkundschaft?«
    »Nein, ich … hab einen Termin mit Madame de Montreux.«
    »Die wird sich verspäten. Heute ist Familientag.«
    »Soll ich ein andermal wiederkommen?
    »Nein, bleib ruhig! Komm rein! Setz dich!«
    Der Pinguin watschelt vor Sonnie her. Schwanger, denkt Sonnie, und ein Rest von Angst durchzuckt sie. Sie betreten ein Wohnzimmer. Teppich mit Flecken und Brandlöchern. Ein Mann in Unterhemd und Jogginghose auf zerschlissenem Sofa. Kleine Kinder kriechen über den Teppich. Ein Baby in einer Wiege. Der Fernseher läuft.
    Der Pinguin ruft dem Mann etwas Spanisches zu und zerrt einen Vorhang zu. Sonnie und der Pinguin sind nun vom Rest der Familie getrennt. In diesem Teil des Wohnzimmers liegen Decken und Kissen auf dem Teppich. Ein kleiner runder Campingtisch steht zwischen zwei Ikea-Stühlen. Kinderlachen und eine strenge Fernsehstimme dringen durch den Vorhang. Der Pinguin zündet ein Räucherstäbchen an und hängt sich ein billiges, mit Glitterfäden durchzogenes Tuch über den Kopf.
    »Ich würde lieber auf Madame de Montreux warten«, sagt Sonnie.
    Das Räucherstäbchen qualmt stark.
    »Die hat grad angerufen. Ich soll dir die Zeit vertreiben. Stell doch den Koffer im Flur ab.«
    »Nein.« Sonnie umklammert den Griff. Er ist feucht.
    Der Pinguin setzt sich jetzt Sonnie gegenüber. Er lächelt. Es fehlen einige Zähne im Lächeln. Zwischen ihnen, auf dem Campingtisch, steht ein Aschenbecher. Daneben liegen eine Schachtel Zigaretten, ein Feuerzeug, ein Stapel grüner Handzettel. Sonnie greift nach einem der Handzettel.
    MIA
    Handleserin and Wahrsagerin
    enthüllt die Vergangenheit
    erklärt die Gegenwart
    entfaltet die Zukunft
    durch die vierzig Zahlenkarten des Tarot,
    Handlesen, übernatürliche Kräfte, Kristallkugel
    Du hast eine Frage frei.
    »Ich glaube, ich möchte lieber auf Madame de Montreux warten.«
    »Wird noch ’ne halbe Stunde dauern. Elvi steht im Stau. Ich könnte so lange in deinen Handflächen und in deinem Gesicht lesen. Das geht richtig in die Tiefe. Leidest du an Blähungen?«
    »Bitte? Nein. Aber ich hab …« Sonnie zieht den Gipsarm unterm Trenchcoat vor.
    »Ist der gebrochen?«, fragt

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