Der Koffer
der Pinguin.
»Ist er?«, fragt Sonnie zurück.
Der Pinguin sieht sie an, einen Funken Intelligenz in den Augen. »Er ist nicht gebrochen. Und das war die Frage, die du frei hattest. Der Gips ist ohnehin kaputt. Der Gips muss ab, für den Energiefluss.«
»Von mir aus.«
Der Pinguin verschwindet und kommt kurze Zeit später mit einer Geflügelschere wieder.
»Wird schon seine Gründe haben, dass Elvi im Stau steckt«, murmelt er. »Vermutlich soll ich dir sagen, was so los ist in deinem Leben.«
Sonnie schweigt. Sie weiß selbst, was los ist in ihrem Leben. Eine Menge ist los. Alles ist los. Der Pinguin beugt sich über sie. Er riecht nach Schweiß und billigem Deodorant. Die Geflügelschere frisst sich durch den im Kampf zersplitterten Gipsverband.
»Ich möchte, dass du dich auf drei Wünsche konzentrierst«, flüstert der Pinguin, während er schneidet, ritschratsch.
Drei Wünsche. Drei Wünsche. Drei Wünsche. Ein Leben mit Rhett, denkt Sonnie. Den Koffermann finden. Ich will wissen, ob meine Mutter mich geliebt hat.
»Gib mir deine Hände, bitte.«
Sonnie betrachtet ihren Daumen, rosa verschrumpelt. Um die Schnittwunde herum klafft tote, weiße Haut. Die Schwellung ist zurückgegangen. Sonnie streckt die Hände nach vorn. Der Pinguin greift nach ihren Handgelenken und dreht Sonnies Handflächen nach oben. Der Pinguin beginnt, in einem leiernden Tonfall zu sprechen. Es klingt wie die Bordansage einer Stewardess.
»Du bist eine ehrliche Person. Aber verzeih mir, wenn ich das sage, viele Leute in deiner Vergangenheit haben dir das nicht gedankt. Du solltest vorsichtig sein, wem du vertraust und mit dem du Klartext sprichst. Es gibt viel Neid auf der Welt. Da ist eine Frau in deiner Umgebung, von der du denkst, dass sie eine enge Freundinist. Aber sie ist keine enge Freundin. Es gibt etwas Negatives, das dich umgibt. Etwas schwächt dein Energiefeld. Etwas blockiert dich.«
Sonnie starrt auf den Koffer.
Der Pinguin folgt ihrem Blick.
»Du wirst bald eine Reise machen. Eine Reise in die Vergangenheit.«
Hier is Gabi … Ga-bi.
»Du musst deine Vergangenheit finden, bevor sie dich findet.«
Du musst deine Vergangenheit finden, bevor sie dich findet.
»Du wirst bedeutungslose Affären erleben«, sagt der Pinguin. »Frag dich, was du willst in deinem Herzen. Frag dein Herz: Was ist deine Sehnsucht?«
Mit einem Blinzeln auf Sonnies in Abwehr versteinertes Gesicht ändert der Pinguin Tonfall, Tonlage und Sprechtempo, als hätte er Helium geschluckt: »Deine Glückstage sind Mittwoch und Freitag. Deine Glückszahlen sind 3, 9, 6, 4 – in dieser Reihenfolge. Du wirst mit 89 Jahren friedlich im Schlaf sterben. Sind das nicht gute Nachrichten? … O hallo, Elvi!«
»Hallo, Mia.«
Sonnie dreht sich um. Im Halbschatten des Vorhangs, von einer billigen Stubenleuchte umflort, steht Elvira de Montreux und blickt aus trägen, gelbgrünen Katzenaugen auf Sonnie. Sonnie hat sie gar nicht kommen hören. Elvira trägt die schwarz gefärbten Haare in einen akkuraten Dutt vernestelt. Ihr olivgrüner Mantel ist tailliert und hochgeknöpft. Ihre Hammerzehen hat siein schmale Stiefel gepresst. Sie ist eleganter als bei ihrem ersten Treffen. Sie ist im Dienst.
Sonnie fragt sich, was die Frau in dieser Umgebung sucht, was sie gemeinsam haben mag mit dem schwangeren Pinguin und seiner Großfamilie. Der ist im selben Moment wie vom Erdboden verschluckt. Selbst die Geräusche hinter dem Vorhang sind weg.
»Lass dich nicht täuschen von Äußerlichkeiten«, sagt Elvira de Montreux, und ihr französischer Akzent legt sich wie Parfüm über den Räucherstäbchenqualm. »Mia hat die Gabe, aber sie weiß es nicht. Sie hält sich selbst für eine Schwindlerin.«
Wie schon beim ersten Mal mustert sie Sonnie, die vor Nervosität aufgestanden ist, ausgiebig. »Komm mit in mein Büro, Schätzchen.« Sonnie folgt Elvira, die größer ist als sie und hoheitsvoll voranschreitet. Elvira läuft auf die Wand zu. Eine Tür wird sichtbar, die vorher im Schatten verborgen war. Elvira zieht ein beeindruckendes Schlüsselbund hervor.
»Voilà!«
Ein großer, mit schwarzem Stoff verkleideter Raum wird sichtbar, in dessen Mitte ein Schreibtisch steht. »Ich bin eine« … üsch bün einöh … »Archivarin«, sagt Elvira. Sonnies Kehle ist trocken. In ihrem Bauch sitzt eine Faust.
»Was … archivieren Sie denn?«, fragt Sonnie. Es ist das Erste, was sie sagt, seit Elvira erschienen ist. Ihre Stimme ist belegt. Sie räuspert sich, erst
Weitere Kostenlose Bücher