Der Koffer
ich ja einen Mann, der für mich s-s-sorgen könnte.«
Sonnie folgt der Gestalt mit den Augen. Es ist ein Mann. Sie kann nur seinen Körper sehen. Am Ende des Wagens, kurz bevor er verschwindet, beugt er sich hinunter und sieht hinein. Er sieht Sonnie direkt an. Es ist der schwarze Mann mit dem Rosenblattmund, densie im Treppenhaus des Koffermanns gesehen hat. Der Rappe. Er will einsteigen, aber die Tür schließt sich bereits. Seine helle Handfläche liegt auf der Scheibe. Die Bahn ruckt an. An der Scheibe ein Handabdruck.
»Was ist denn jetzt mit Sp-p-pende?«, sagt die Alte, die nun dicht neben ihr steht und mit dürren gelben Fingern über ihren zerrissenen Tüllrock streicht. Sie hat ein mumifiziertes Äffchengesicht. Breite schwarze Balken sind über die spärlichen Augenbrauen gemalt. Dicke, trockene, rosa Paste krümelt von ihren welken Lippen.
Sonnie zieht eine Dollarnote aus dem Portemonnaie.
»Zw-w-wei Dollar wären b-b-besser.«
Sonnie steht auf, läuft zum Wagenende, öffnet die zugige Mitteltür, steht für eine Schrecksekunde in der rumpelnden Zugluft des Zwischenraums, hastet in den nächsten Wagen und versucht, einen Blick auf den Mann mit dem Rosenblattmund zu erhaschen. Was will er von ihr? Warum begegnet er ihr? Warum sucht er nach ihr? Sucht er nach ihr? Doch der Zug hat den Bahnhof verlassen und bewegt sich bereits rumpelnd im Tunnel.
An der 96. Straße steigen alle Weißen aus. Sonnie teilt den Wagen nun mit einer Latino-Familie, zwei schlafenden Chinesen, zwei schwarzen Jugendlichen, die kopfruckelnd Musik hören, und einem weißhaarigen schwarzen Mann mit Blindenbrille und Schäferhund. Sonnie spürt jedes Gefäß in ihrem Körper pumpen. Kann derselbe Mensch doch erst Rausch, dann Fessel, dann wieder Rausch sein? Oder ist Rhett nicht mehr derselbe Mensch? Ist sie nicht mehr derselbe Mensch? Haben sie sich gegenseitig aus den Panzern geprügelt?
Sie wühlt in ihrer Tasche nach der Visitenkarte. Auf die Rückseite hat sie die Adresse gekritzelt.
In Harlem, Schätzchen. Und komm allein.
»Hallo, Auskunft? Levi & Sohn Umzüge bitte. Ja, Manhattan.«
Rhett notiert sich die Nummer. Er weiß nicht, wo Sonnie schon wieder hingegangen ist. Sie war weg, als er aufwachte. Er weiß nicht, was in seinem Leben passiert, warum er neuerdings Menschen rettet, Verhören ausgesetzt wird, Kohlrabi kauft, Deo benutzt, Heiratsanträge macht, Frauen verprügelt, Lebensbeichten ablegt, aber er weiß eines: Er braucht einen Freund.
Er braucht einen Freund. Nötiger als je zuvor. Er will eine richtige Männerfreundschaft, eine, die sich in zwielichtigen Kneipen abspielt, im Zigarrenqualm, inmitten Betrunkener, inmitten mürrischer Kellnerinnen, mit Armdrücken und Rülpsen und Furzen. Mit Würfeln, Kartenspielen, Pferderennen, frauenfeindlichen Witzen. Sein Freund wird ihm zuhören, ohne dass er ihn dafür bezahlt. Sein Freund wird ihm raten, er wird ihm den Vogel zeigen, er wird ihm auf die Schulter klopfen. Rhett sieht seinen künftigen Freund vor sich. Es kristallisiert sich noch kein Gesicht heraus, aber eine Gestalt, eine große kompakte Gestalt, ein dicker Kugelkopf, zwei große lila Hände, eine Glatze, ein Vollbart.
»Ich würde gern Bud Brown sprechen … Seinen freien Tag? … Kann ich ihn zu Hause anrufen? … Was heißt das, Sie geben keine Privatnummern raus? … Natürlich bin ich ein Freund von ihm … ich hab seine Nummernur … verlegt … Wohnt er nicht in Chinatown? Nein? In Brooklyn. Ja, natürlich … vielen Dank!«
Rhett legt auf. Sein Arm schmerzt. Wie ramponiert er ist von den letzten Tagen. Die Sache mit Gong. Der Kampf mit Sonnie. Ein Hämatom links vom Brustbein, ein roter, nachdunkelnder Fleck direkt überm Herzen. Und den Arm muss er sich geprellt haben. Im Alter werde ich noch ein Raufbold, denkt er.
»Hallo, Auskunft? Ich suche einen Privatanschluss. Bud Brown. Brooklyn. Nein, ich hab keine Adresse. Auch keinen zweiten Vornamen. Wie viele Einträge? Drei in Manhattan, einer in Queens, drei in Brooklyn? Geben Sie mir Brooklyn.«
Rhett kritzelt drei Nummern auf ein Blatt. Rhett ruft sie an, eine nach der anderen.
Der letzte Bud wohnt in der Kennedy Road. Der letzte Bud ist seiner.
»Hallo, arbeiten Sie bei ›Levi & Sohn Umzüge‹?«
»Ja, schon, aber heute nicht, was gibt’s denn?«
»Bud, hier ist Rhett.«
»Wer?«
»Rhett-ist-nett.«
»Gibt’s ja nicht! Das warst also doch du neulich, Alter!«
»Ja. Ich … ich würde dich gern mal besuchen.«
»Ja, klar,
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