Der Koffer
schreibt gerade etwas auf einen pinkfarbenen Aufkleber, pink wie alle Adressen-Beschriftungen auf den Koffern. Sie steht auf, läuft zu dem »Lady Baltimore«, klebt den Aufkleber auf die Seite und nimmt den Koffer am Griff.
»Was machen Sie da?«, fragt Sonnie matt. Sie weiß genau, was Elvira de Montreux macht. Sie vollzieht den Pakt.
»Fass mal mit an, Schätzchen«, sagt Elvira. Sonnie tritt an ihre Seite. Sie streicht ein letztes Mal über den roten Koffer, leicht klopfend, wie auf die Flanken eines geliebten Rennpferdes, das sie soeben verkauft hat. Gemeinsam hieven sie ihn in ein fast volles Regalfach mit der Bezeichnung 2005. Auf dem pinkfarbenen Aufkleber steht: Chrystie Ecke Delancey.
Sonnie tritt wieder hinaus auf die Straße. Sie stellt den karierten Koffer ab. Sie nimmt den Handspiegel aus dem Rockbund. Sie steckt ihn in ihre Handtasche. Sie nimmt den Koffer wieder. Als sie den ersten Schritt macht, löst sich ein Schatten aus der Wand und folgt ihr. An der Ampel dreht sie sich um. Ein Mann. Groß. Ein gelbbrauner kahler Kopf wächst aus einer gelbbraunen Lederjacke. Der Mann trägt ein Schlüsselbund an der Taille. Es rasselt. Sonnie ändert ihre Route und gehtnach links anstatt nach rechts. Die Schritte bleiben hinter ihr.
Sonnie bleibt vor einem Schaufenster stehen, in dem Beinprothesen ausgestellt sind. Der Mann bleibt ebenfalls stehen. Ein zweiter Mann gesellt sich hinzu. Dem zweiten hängt der Hosenzwickel in den Knien. Er schlägt sich mit einer leeren Wasserflasche in die hohle Hand. Es macht ein Plop-Geräusch. Die Männer sehen sich nicht an. Sie sehen Sonnie nicht an. Vielleicht ist ja alles ganz harmlos. Vielleicht bildet Sonnie sich nur ein, dass sie verfolgt wird. Sonnie atmet tief. Die Luft ist viel zu dick. Sonnie und die zwei Männer starren in das Schaufenster mit den Beinprothesen.
Keiner von ihnen braucht eine Beinprothese. Es ist kein Zufall. Sie wird verfolgt. Sonnie überlegt, wie viel Sinn es hätte, zu rennen. Sie geht weiter, in einem für die Tageszeit geradezu provozierend langsamen Schlenderschritt. Es ist dunkel. Es ist kalt. Alle Läden zu. Es gibt keinen Grund zu schlendern. Aber Sonnie weiß nicht, wie man angemessen läuft in einer Situation wie dieser.
Schlüsselklappern.
Flaschenklopfen.
Sie darf keine Angst zeigen.
We’re gonna be cool. Now Ringo, I’m gonna count to three, and when I count three, you let go of your gun, and sit your ass down.
Vor ihr Leute. Ein Paar. Ein älteres Paar, Touristen. Sie halten einen Stadtplan in der Hand. Sie stecken die hellen Köpfe zusammen im Licht der Straßenlaterne. Sie versuchen herauszufinden, wo sie sind. Sonnie beschleunigtihren Schritt. Sie rennt in den Lichtkegel der Laterne. Schon von weitem, atemlos, mit vor Anspannung piepsiger Stimme, ruft sie:
»Kann ich Ihnen helfen?«
Natürlich wird sie nicht den besten Eindruck machen, mit dem Veilchen, mit dem Koffer, abgehetzt, aufdringlich, aber das ist egal. Der Mann, ein schmächtiger Glatzkopf um die fünfzig, wirft ihr einen prüfenden Blick zu.
»Nein, danke, vielen Dank«, sagt er mit skandinavischem Akzent.
»Sind Sie Schwede?«, fragt Sonnie.
»Wir kommen aus Dänemark«, sagt die Frau, die ein gutmütiges rotfleckiges Gesicht und einen apfelsinenfarbenen Pagenkopf hat.
Die Verfolger nähern sich. Es sind jetzt drei.
Sonnie lacht auf, als sei das ein unglaublicher Zufall, dass die beiden aus Dänemark kommen, obwohl sie nie in Dänemark war, nichts über Dänemark weiß und auch keinen Dänen kennt.
»Das ist ja ein Ding«, sagt Sonnie, »Dänemark, wo denn da?«
»Aabenraa, in Südjütland«, sagt die Frau und lächelt zutraulich. »Und wo kommen Sie her?«
»Deutschland«, sagt Sonnie, »Leipzig.«
»Wo?«
»Sachsen«, sagt Sonnie. Saxonia.
»Aaah-ja«, sagt der Däne, den Sonnies Herkunft offenbar beruhigt. »Sprek-ken Sie doitsch?«
Die drei Verfolger laufen an ihnen vorbei. Rassel. Plop. Rassel. Plop. Sie wenden Sonnie ihre Gesichter zu.Ganovengesichter. Warte nur, Schneeflocke, liest Sonnie in den Ganovengesichtern, wir kriegen dich.
»Jaja«, sagt sie laut, greift nervös den Dänen am Revers, lässt aber sofort wieder los. »Können Sie mir den Weg zur Subway zeigen?«
»Dort hinten.« Er wird wieder misstrauisch. »Ich dachte, Sie kennen sich hier aus? Wollten Sie uns nicht eben noch helfen?«
»Ja, ich meinte ja auch … kann ich Ihnen den Weg zur Subway zeigen?«
»Wir wollen ins Apollo-Theater«, sagt die Dänin.
»Dann haben
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