Der Koffer
leise, dann energischer.
»Essenzen«, sagt Elvira. »Hast du den Kampf wenigstens gewonnen?«
»Welchen Kampf?« Sonnie schießt das Blut ins Gesicht.
»Den Faustkampf. Schau doch in den Spiegel! Hast du keinen Spiegel?«
»Wieso?« Sonnie greift nach dem Spiegelknauf im Rockbund. Ertappt.
Mit einem Lächeln, das gleichzeitig streng und ungeduldig ist, nimmt Elvira eine Puderdose aus ihrer Tasche, klappt sie auf und hält sie Sonnie hin. Sonnie sieht in den kleinen, runden, leicht mit Puder bestäubten Spiegel. Sie hat ein Veilchen.
Verkorkst.
»Ich hab mich … gestoßen.«
»Wie auch immer«, sagt Elvira. »Let’s talk business. Du hast etwas, was mir gehört, und ich habe etwas, was dir gehört.«
»Ich weiß nicht, wovon Sie reden.«
»Natürlich weißt du, wovon ich rede. Sonst hättest du ihn ja nicht mitgebracht.«
»Wen?«
Elvira steht auf, geht zur Ecke ihres Büros und zieht an einer Schnur. Gleichzeitig öffnen sich die schwarzen Vorhänge an allen vier Wänden, und deckenhohe Regale kommen zum Vorschein, Regale mit Fächern, in denen, dicht an dicht gedrängt, Koffer stehen. Große, kleine, dicke, schmale, aus Leder, aus Plastik, aus Textil, mit beschlagenen Ecken, mit runden Ecken, mit Aufklebern, mit Riemen, verstaubt.
Sonnie starrt die Regale mit den Koffern an.
»Haben Sie ein … Fundbüro?«
»Wenn du so willst.«
»Und Sie wollen – meinen Koffer?«
»Das ist nicht dein Koffer, Schätzchen.«
»Nein … doch … Sie irren sich … Der Koffer gehört mir. Ich habe ihn rechtmäßig …«
»Rechtmäßig was?« Räschtmässssisch. »Geklaut?«
»Ich habe ihn nicht geklaut, Madame de Montreux. Ich habe ihn auf der Straße gefunden.«
»Du bist nicht die rechtmäßige Besitzerin. Ich kenne den rechtmäßigen Besitzer. Er hat sich gemeldet.«
»Mister Cohen?«
»Der Besitzer möchte ungenannt bleiben.«
»Ich habe den Koffer mitgebracht, weil ich ihn Ihnen zeigen wollte. Weil ich glaube, dass er Verwirrung in mein Leben bringt.«
»Na also. Tauschen wir.«
»Und was krieg ich?«
Elvira zeigt auf die mit Koffern gefüllten Regale. Sie hat sich den Mantel ausgezogen, ihre Bluse hat einen dunkelroten Fledermausärmel, sodass die Geste majestätisch, fast märchenhaft wirkt.
»Such dir einen anderen aus.«
Sonnie nähert sich den Regalen. Langsam läuft sie an den Koffern entlang, berührt sie, die Boten aus anderen Zeiten, von anderen Orten. Sie würde sie gern öffnen, einen nach dem anderen.
»Ich hätte da einen Tipp«, sagt Elvira.
Die Regale tragen Jahreszahlen. An jedem Fach eine. 2004, 2003, 2002, 2001. Die Jahreszahlen führen chronologisch zurück. 1996, 1995, 1994, 1993.
»Warm«, sagt Elvira.
Sonnies Herz schlägt schneller. 1990, 1989, 1988, 1987.
»Wärmer«, sagt Elvira.
Sonnies Schritt verlangsamt sich. 1986, 1985, 1984.
»Heiß«, sagt Elvira.
Sonnie bleibt stehen vor einem Regal. Es besteht aus vier Fächern. Jedem Fach ist ein Jahr zugeordnet, und es stehen jeweils sechs Koffer darin. Im unteren Fach stehen ausschließlich Koffer aus dem Jahr 1984. An jedem der Koffer klebt ein Schild mit einer Adresse. 22 East 62th Street. 146th Street and Riverside Drive. 2285 Fifth Avenue, Bleecker and Thompson. 115 Avenue A.
115 Avenue A? Das war ihre Adresse. Das war der Brownstone-Vierstöcker, in dem sie zur Untermiete bei den polnischen Kiffern gewohnt hatte.
Der Koffer. Da ist er. Ist er es? Sonnie fährt über den staubigen und groben Stoffbezug. Ihre Finger ertasten das kleine Lederemblem. »Rolf Hetzer, Leipzig« steht darauf. Rolf Hetzer. Leipzig. Er ist es.
Sonnie vergisst zu atmen. Ihr Koffer. Ihre Wurzeln. Ihre abgehackten Wurzeln. Ihre Erinnerungen. Ihre verschütteten Erinnerungen. Rolf Hetzer, Leipzig. Die Vergangenheit finden, bevor sie dich findet. Sie hatte ihren Koffer stets bewacht und beschützt. Bis auf einmal. Als sie mit Winston, dem alten Rockmusiker, nach Los Angeles getrampt war. Sie hatte den Koffer in Winstons Wohnung zurückgelassen. Es war ihr riskanter erschienen, ihn mit auf die Westküstenreise zu nehmen.
Doch als sie nach zwei Monaten wiederkamen, war die Wohnung zwangsgeräumt worden. Es gab eine neue Tür, ein neues Namensschild, neue Mieter. Alles war weg. Winstons Schlagzeug. Winstons Bassgitarre. WinstonsMöbel. Winstons Haschpfeifensammlung. Sonnies karierter Koffer. Weg.
»Woher …?«
»Nimm ihn raus«, sagt Elvira.
Sonnie zieht den Koffer aus dem Regal. Er ist kleiner als in ihrer Erinnerung und leichter.
Elvira
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