Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Koffer

Der Koffer

Titel: Der Koffer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Else Buschheuer
Vom Netzwerk:
wir denselben Weg«, sagt Sonnie in Panik und zeigt dorthin, wo der Däne eben hingezeigt hat. Sie zeigt mit der Hand, die im Gips war, die nun wieder frei und leicht ist, aber kleiner und verschrumpelt. Sonnie hat keine Ahnung, wo das Apollo-Theater ist, aber sie muss in Begleitung zur Subway gehen. Im Hintergrund, hinter den Dänen, stoppen die Verfolger. Inzwischen sind es vier. Sie beraten sich kurz und kommen langsam zurück.
    »Kommen Sie«, sagt Sonnie und zieht am Ärmel der Frau. Der Däne sieht sich um. Rassel. Plop. Rassel. Plop.
    »Was geht hier vor?«, sagt er. »Wer ist das? Wer sind diese Männer? Das ist doch ein abgekartetes Spiel! Help! Help! Police!«
    »Police«, echot seine Frau.
    Beide rufen unisono: »Police!«
    Die Verfolger stocken. Von der Straßenecke fährt ihnen langsam ein hellbraunes Auto entgegen. Sie springen hinein. Das hellbraune Auto fährt neben Sonnie Schritt. Die Dänen bleiben lamentierend zurück. Sonnie rennt.
    Sie sieht Licht. Sie sieht Leute. Sie sieht eine offene Ladentür. Sie bremst ab, geht rein. Keucht. Stellt den Koffer ab. Sieht sich um. Ein Schnapsladen voller Leute. Nur für eine Sekunde fühlt sich Sonnie erleichtert. Dann sieht sie sich genauer um. Zahnlose, lallende, zitternde, brüllende, stinkende, Schnaps fordernde, gefundene Cents hinzählende Trinker. Sie starren Sonnie aus blutunterlaufenen Augen an. Der Schnapsverkäufer, ein Chinese, ist mit Plexiglas geschützt. Es gibt nur eine kleine Schleuse zum Durchreichen von Flaschen und Geld, eine Schleuse wie eine Schießscharte. »Nicht mehr als fünf einzelne Cent pro Einkauf«, steht auf einem Pappschild über der Schießscharte. Sonnies Hirn pocht. Bleiben. Rausgehen. Bleiben. Rausgehen. Wo ist die Subway-Station? Ob die Ganoven draußen warten? Haben sie sie reingehen sehen?
    »Bist du Russin?«, fragt sie ein zahnloser, dicker schwarzer Mann. Er trägt eine Trainingsjacke über einem Unterhemd und riecht nach Erbrochenem.
    Sonnie schüttelt den Kopf.
    »Französin?«
    »Deutsche.«
    Der dicke Mann grinst. Der dicke Mann salutiert.
    Bloody damn butchering Nazi pig!
    Er wendet sich ab. Sonnie denkt, dass sie zum zweiten Mal innerhalb einer halben Stunde gefragt wurde, wo sie herkommt. Deutschland. Leipzig. Wie lange hat sie das nicht mehr gesagt. Deutschland. Leipzig.
    Gabi.
    Wie lange wurde sie das nicht mehr gefragt. Deutschland. Leipzig.
    Isch würd disch gärn moh wiedorsähn.
    Leipzig. Sie kann es nicht sehen. Aber sie kann es riechen. Beton und geschmolzenes Quietschpapier, mit einem Hauch Patchouli und Moschus, das war damals sehr in und wurde aus dem Intershop besorgt. Leipzig, ein Neubauviertel, WBS 70, Mockau-West. Sonnie erinnert sich, an die Schule, ein Block aus zementierten Betonplatten. Sie erinnert sich an den Hausschuhzwang, an das Schliddern und Gleiten über die Flure. Sie erinnert sich daran, wie sie gehänselt wurde, weil sie eine Brille trug. Sie erinnert sich an ihren Stolz, ein Jungpionier, ein Thälmannpionier, eine FDJlerin zu sein.
    An Leipzig selbst kann sie sich nicht mehr erinnern. An die Stadt, die Silhouette der Stadt, den Schnitt der Stadt, die Stadtteile. Wie die Stadt aussah – nichts. Nur, dass der Vater eines Tages nicht nach Hause gekommen war. Die Mutter hatte nichts gesagt, kein Wort. Und wenn Sonnie fragte, sagte die Mutter: Sei still. Sei doch still. Der Vater war zu einem Vortrag nach Düsseldorf gefahren. Er war am nächsten Tag nicht zurückgekommen. Da war Sonnie fünf und lernte neue Worte. Republikflüchtling. Ausreiseantrag. Stasi.
    Sonnie hatte ihren kleinen karierten Koffer gepackt. Sie hatte fest damit gerechnet, dass die Mutter und sie, dass sie beide dem Vater hinterherreisen würden. Drei Tage lang hatte Sonnie ihren karierten Koffer durch die Wohnung getragen. Damals war der Koffer riesig gewesen. Sonnie hatte ihr Käppchen aufgesetzt. Sie war reisefertig gewesen. Aber die Mutter hatte gesagt: »Was soll denn das, Sonja?«
    Dann war der Vater doch zurückgekommen. Er hatte die Großeltern mitgebracht aus Schleswig-Holstein. So war der Großvater in Sonnies Leben getreten, und mit dem Großvater das Licht.
    Sonnie tritt aus dem Schnapsladen in die Dunkelheit. Wo geht es zur Subway? Sie donnert unter ihr. Sie kann nicht weit sein. Sonnie läuft. Sie läuft zügig. Neben ihr fährt ein hellbraunes Auto. Langsam. Sonnie reißt eine Tür auf, über der »Mama Rumba« steht. Sie wird in rötliche Dunkelheit getaucht. Salsa. Lachen. Schwüle.

Weitere Kostenlose Bücher