Der Koffer
Paarsilhouetten. Alkoholdunst. Körperbewegungen.
Ein Arm greift um Sonnies Taille. Sie wird in die Menge gezogen. Sie wird in einen Tanz gezogen. Sie hat seit Jahren nicht mehr getanzt. Rhett tanzt nur unter Protest. Jake tanzte gar nicht. Dabei tanzt Sonnie so gern. Sie wird gern getanzt. Die Musik fließt schneller ins Blut als Wein. Sonnie lässt sich einsaugen in die Leiberwoge. Das Meer verschluckt sie. Sie wird ein Teil des großen, warmen, pulsierenden Schiebens und Zuckens.
Ihre Schultern kreisen.
Ihre Hüften kreisen.
Ihr Unterleib bebt.
Ihre Füße erobern Terrain.
Sonnie wirft den Kopf zurück. Ihr Mund lächelt von selbst. Ihr Tänzer ist groß. Er ist im Schatten. Er ist stumm. Er wiegt sich. Er wiegt sie. Er zieht sie nah an sich. Sein Atem brennt an ihrem Ohr. Er nimmt ihren Arm, ihre Hand, dreht sie ein, stößt sie ab, wickelt sie auf. Er presst sie an sich. Ihr Herz klopft an seins. Er stößt sie zurück, sie fällt in die Menge, wird gehalten,schwebt. Ihr Tänzer zieht sie an wie ein Magnet. Kaltes Glas in ihrer Hand. Glatter Strohhalm in ihrem Mund. Margarita. Sonnie schließt die Augen. Ein Mund küsst ihre kalte Nasenspitze. Der Mund ist warm. Der Mund ist weich. Sie schlägt die Augen auf. Der Mund ist rosa. Der Mund ist geformt wie ein Rosenblatt. Sie weicht zurück und fixiert das Gesicht ihres Tänzers.
Er ist es. Der Mann mit dem Rosenblattmund. Er packt ihre Hüften. Er lässt die Hände hinauf zu ihren Schulterblättern gleiten. Er hebt Sonnie über sich. Er stellt sie wieder ab. Er biegt sie nach hinten. Er schiebt sein Bein tief zwischen ihre Beine. Er tanzt sie atemlos. Er tanzt sie gedankenlos. Er tanzt sie willenlos.
»Ich hab dich gesucht«, sagt der Rosenblattmann.
»Ich dich auch«, hört sich Sonnie sagen. Sie hört sich laut und tief lachen. Geht das schon wieder los, denkt sie.
Er gibt ihr eine Margarita. Sie ist durstig. Sie ist gierig. Der Strohhalm bremst ihre Gier. Sie setzt den salzigen Glasrand an die Lippen und trinkt.
»Du hast ein Veilchen«, sagt der Rosenblattmann.
Du hast ein Rosenblatt, denkt Sonnie.
Sie trinkt. Sie lacht. Sein Bauch ist fest. Seine Schultern sind breit. Seine Hüfte schwingt synchron mit ihrer. Sonnie verschmilzt mit dem Rosenblattmann. Sie leckt an seinem schwarzen Hals. Er ist salzig.
Sie wird wieder durstig.
Bleib doch endlich durstig.
Sie trinkt noch eine Margarita.
Sonnie ist betrunken. Er greift sie um die Taille und schleudert sie wie eine Puppe. Sonnie fliegt. Sie nimmtnichts um sich wahr. Sie sieht nur seine weißen glänzenden Zähne. Zähne oben, Zähne unten, eine dicke, nasse, graue Zunge. Die graue Zunge leckt rosa Lippen. Seine rosa Lippen. Zunge und Lippen werden größer, verschwimmen. Sonnie lässt sich küssen vom Rosenblattmann.
Sie lässt sich von dem Rosenblattmann hinaustragen, in ein anderes Haus tragen. Sie lässt sich vom Rosenblattmann zwei Treppen hochtragen. Sie lässt sich von ihm ausziehen. Sie lässt sich von ihm mit Küssen überdecken.
Du wirst wilde und bedeutungslose Affären erleben.
Der Mann ist wie ein zäher warmer Mantel aus Teer, haarlos, pulsierend, bittersüß. Schweißperlen glänzen auf seiner Haut, als sie sich danach eine Zigarette teilen. Sein Schatten gleicht der afrikanischen Maske auf dem Picasso-Bild. Sein langes krauses Haar zipfelt in alle Richtungen.
»Hmmm. Sag mal, Veilchen, hattest du nichts … dabei?«
»Was dabei?«
»Na, Gepäck.«
Der Koffer. Wo ist der Koffer? Wo hat sie ihn verloren? Sonnie strengt sich an. Ihr Hirn gehorcht nicht. Sie hat ihn getragen. In der rechten Hand. Sie hatte ihn in der Hand, als sie verfolgt wurde. Hat sie ihn abgestellt, als sie vor dem Schaufenster mit den Beinprothesen stand? Hat sie ihn abgestellt, als sie auf die Dänen traf? Hatte sie ihn noch im Schnapsladen? Hatte sie ihn noch im »Mama Rumba«?
»Wie kommst du darauf, dass ich Gepäck hatte?«
»Weiber haben immer Gepäck.«
»Hast du den Koffer gesehen? Hatte ich einen Koffer, als ich ins Lokal kam?«
»Nein.«
»Woher weißt du dann, dass ich einen hatte?«
Er wendet ihr ruhig das Gesicht zu. Es ist glatt wie poliertes Ebenholz.
»Hattest du einen?«
Sie sehen sich einen Moment an. Sonnie erschrickt über die Kälte in seinem Blick. Es ist, als hätte sie sein Gesicht schon anderswo gesehen.
Die Afrokrause. Der trotzige Gesichtsausdruck. Die runde Stirn. Die hellen, aufgeworfenen Lippen. Das sarkastische Lächeln. Der breite Nasenrücken.
Sonnie streckt den Arm
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