Der Koffer
über den Autounfall, bei dem vor zwanzig Jahren ihre Eltern auf tragische Weise ums Leben kamen«.
Rhett liest.
»Ich weiß nicht mehr, warum mein Vater von der Fahrbahn abkam. Die Stimmung war heiter. Ich hatte meine Mutter gerade lachen hören. Er hatte etwas gesagt, und sie hatte gelacht. Dann fuhr er nach links. Er fuhr auf die andere Fahrbahn. In den Truck, der uns entgegenkam. Es ging alles so schnell. Er flog durch die Scheibe. Meine Mutter ohne Kopf. Ich eingeklemmt. Überall Blut. Dann kamen sie. Die Männer mit den Schweißgeräten. Die großen Männer mit den Schweißgeräten und den Schneidbrennern. Polizeiautos. Ärzte mit dem Hubschrauber. Und Reporter, Reporter. Sie haben Fotos gemacht. Blitzlicht. Meine Mutter ohne Kopf. Sie saß noch im Sitz. Angeschnallt. Ganz still.«
Seine Brust wird eng. Er sieht auf. Er sieht Ellis an.
»Aber das sind meine Erinnerungen«, ruft er. »Das ist mein Leben. Sie hat mein Leben gestohlen. Man muss sie verklagen. Man muss sie stoppen.«
Rhett schüttelt den Kopf. »Da stimmt was nicht«, sagt er.
»Nein, da stimmt was nicht«, sagt Ellis. »Der Meinung bin ich auch. Und es ist gar nicht so schrecklich, wie du denkst. Es ist ein kleiner Defekt. Dein Gedächtnis spielt dir einen Streich. Nicht sie hat dein Leben gestohlen, sondern du ihres. Nicht mit Absicht, da bin ich überzeugt. Weißt du noch, warum du mich damals gefeuert hast?«
Rhett hat die mimische Kontrolle verloren. Seine Nasenflügel beben. Sein Kinn zuckt. Es ist, als jage elektrischer Strom durch sein Gesicht.
»Konfabulationen«, sagt er. »Pseudologie, Pseudo-Erinnerungen, fantastische Lügen durch Suggestion.«
»Exakt«, sagt Ellis. »Du hast mir diese Theorie verübelt. Dennoch, ich glaube, du hast so genannte Wahnerinnerungen, rückwirkende Verfälschungen der Erinnerung. Manchmal werden sie einfach produziert, um Erinnerungslücken aufzufüllen.«
Wahn, denkt Rhett.
No bad news .
Was Ellis spricht, blendet sich aus. Rhett verabschiedet sich. Er nimmt ein Taxi nach Hause. Wie kann er sich dieses Grauen ausgedacht haben? Er sieht sie doch, er riecht sie doch, die Männer mit den Schweißgeräten, die Blitzlichter, den Kopf der Mutter. Und wenn das nicht seine Eltern waren, die da starben? Wo sind sie? Leben sie? Wer ist er? Was bedeutet das allesfür ihn? Was hat jetzt mehr Gewicht, die Vergangenheit oder die Zukunft? Muss er sich zuerst nach vorne wenden oder zurück? Er hat sein Leben nicht gelebt, bisher. Er muss versuchen, noch einen Zipfel zu erwischen.
Der Schnee ist weggetaut. Die Sonne ist ein makelloser Ball. Gong ist wieder da. Gong verbeugt sich vor ihm, wieder und wieder, und in seinen verquollenen Schlitzaugen stehen Tränen der Dankbarkeit.
Big boys don’t cry .
Rhett will nur eins, allein sein. Fast ist er erleichtert, als er die Wohnungstür zweimal abgeschlossen findet. Sonnie ist nicht da. Jetzt auch noch Sonnie, das wäre zu viel. Aus dem Nichts kommende ohnmächtige Wut auf Schwester Cäcilia. Sie ist schuld an seinen Cowboyfantasien, seinen Lügengespinsten. Sie ist vermutlich die Einzige, die das Geheimnis seiner Herkunft lüften kann.
Und was bleibt nun von ihm, Rhett, wo er nicht mal mehr die furchtbare Geschichte hat, die ihn besonders machte, ihn von anderen unterschied, seine Defizite rechtfertigte, wenn auch nicht erklärte? Er wird ihr alles, alles sagen. Er wird sich laut Liste bei ihr entschuldigen, und dann wird er sie zur Rede stellen.
Rhett steht vor dem Schlafnummer-Bett. Er lässt sich vornüberkippen. Er liegt im bekotzten Mantel auf dem Schlafnummer-Bett, auf Sonnies Seite, der weichen. Er fällt in Schlaf wie in eine Ohnmacht.
Er erwacht heftig, von einer Faust, die gegen die Wohnungstür schlägt. Er sitzt im Bett und hat das panischeGefühl, etwas verschlafen zu haben. Eine Entscheidung. Einen Termin. Eine Reise. Ein Leben.
Rhett steht auf.
Rhett geht zur Tür.
Er öffnet.
Vor ihm steht der Arzt. Sein Sohn. Der Mann, der behauptet, sein Sohn zu sein. Seiner und der von Kritika Konsompong. Erst seit heute weiß Rhett von der Existenz dieses Sohnes. Und nun steht er schon in der Tür.
Der Berg kommt zum Propheten, denkt Rhett. Der Mut kommt zu mir. Er öffnet die Tür weit. Er dreht sich um und geht in Richtung Dusche. Er ist ein entflohener Sträfling, der entdeckt worden ist. Er muss Ruhe bewahren. Er wird sich aus dem Duschfenster abseilen. Er wird das Wasser laufen lassen, um seinen Verfolger zu täuschen. Er wird entkommen, ein
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