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Der Koffer

Der Koffer

Titel: Der Koffer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Else Buschheuer
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schweigen. Es schneit. Der Anblick der Schneeflocken tut Rhett gut. Er versöhnt ihn mit dem Fensterputzer, der ihn gar nicht sehen kann. Ellis redet, in leisem, einlullendem Tonfall, über die zwölf Schritte, über Treffen der Anonymen Alkoholiker. Rhett nickt. Er spürt, wie er ruhiger und müder wird. Er driftet weg. Seine Gedanken fliegen davon, über die Skyline, die verschwimmt, die zum Umriss von Sonnies weichem, weißem Körper wird.
    Er träumt sich hinein in eine Fensterputzerfantasie, er, Rhett, in einer kleinen Gondel, wie er an Sonnies Körper hinauf- und hinabgleitet und ihn putzt, die Haut wienert, Quadrant für Quadrant.
    »Rhett?«
    Er schreckt auf.
    »Die Liste, die du erwähnt hast, zeig sie mir mal.«
    Rhett reicht die bekritzelte Broschüre über den Schreibtisch. Ellis’ Finger greifen danach, und zum ersten Mal sieht Rhett, wie perfekt jedes von Ellis’ kleinen Körperteilen in Harmonie miteinander ist. Er ist die gelungene Miniatur eines Mannes, denkt Rhett, und nur eine Riesin wie Nancy lässt ihn lächerlich aussehen.
    »Ich stehe auch auf der Liste«, sagt Ellis. Er lächelt süffisant.
    »Warum stehe ich auf der Liste?«
    Rhett zaudert. Warum steht Ellis auf der Liste?
    »Ich habe dich versetzt, nicht auf dich gehört, dich gefeuert …«
    Ellis sieht ihn abwartend an.
    »… dafür möchte ich dich um Verzeihung bitten.«
    »Na, wunderbar! Erledigt!«
    Ellis streicht seinen Namen durch.
    »Du gestattest, dass ich die anderen Personen ordne«, sagt Ellis. Er nimmt einen Stift und malt eine »1« vor den Namen Sonnie, eine »2« vor »mein Sohn«. Eine »3« vor Schwester Cäcilia.
    »Du gestattest, dass ich etwas ergänze …«
    Ellis schreibt eine »4« und dahinter: Eltern.
    »Sehr komisch«, sagt Rhett.
    »Es gibt da was, über das wir noch mal sprechen müssen«, sagt Ellis.
    Massives Unbehagen steigt in Rhett hoch.
    Ellis, aufrecht unter der hohen Lehne, streckt sich vergeblich unter Rhetts Blick.
    »Du weißt, dass es diesen Zeitungsartikel über den Unfall gibt.«
    Rhett will das nicht hören.
    »Und es war genau, wie von dir beschrieben«, sagt Ellis. Er nimmt den Hörer ab: »Nancy, bringen Sie mir bitte die Akte von Rhett Montiel?«
    Nancy erscheint prompt, als hätte sie hinter der Tür auf diesen Auftritt gewartet. Sie hält eine Ledermappe in der Hand. Sie legt die Mappe auf den Tisch. Ellis schlägt sie auf und blättert. Rhett spürt leichte Atemnot. Er steht auf und will ein Fenster öffnen, aber die Schlösser sind verriegelt.
    »Entschuldige«, sagt Ellis leise, »meine Klienten sind nicht stabil genug für hundert Meter Höhe.«
    Weit unten, wie durch Watte, ertönen Martinshörner. Er hätte »manche meiner Klienten« sagen können, denkt Rhett und knackt die Fingergelenke.
    »Hier steht’s«, sagt Ellis. »Der Mann Arzt, seine Ehefrau Tänzerin. Wohnhaft auf der Upper East Side, Park Avenue. 17. 8. 1960. Beide kommen ums Leben … Frau beim Unfall enthauptet. Nur ihr Kind überlebt …«
    Ellis hebt prüfend den Blick. Rhett verzieht keine Miene.
    »… eine Tochter, Anabel Kozlowsky.«
    »Was?«
    »Das überlebende Kind war Anabel Kozlowsky, Tochter von Lesly und Margaret Kozlowsky. Sie kam als Pflegekind in die Familie ihrer Tante.«
    »Das kann nicht sein. Ich war im Auto. Es waren meine Eltern. Ich erinnere mich an alles.«
    »Erzähl mir noch mal, woran du dich erinnerst.«
    »Hab ich dir doch schon mehrfach erzählt …«
    »Viermal.«
    »Na also.«
    »Erzähl sie mir ein fünftes Mal, bitte.«
    »Ich weiß nicht mehr, warum mein Vater von der Fahrbahn abkam. Die Stimmung war heiter. Ich hatte meine Mutter gerade lachen hören. Er hatte etwas gesagt, und sie hatte gelacht. Dann fuhr er nach links. Er fuhr auf die andere Fahrbahn. In den Truck, der uns entgegenkam. Es ging alles so schnell. Er flog durch die Scheibe. Meine Mutter ohne Kopf. Ich eingeklemmt. Überall Blut. Dann kamen sie. Die Männer mit denSchweißgeräten. Die großen Männer mit den Schweißgeräten und den Schneidbrennern. Polizeiautos. Ärzte mit dem Hubschrauber. Und Reporter, Reporter. Sie haben Fotos gemacht. Blitzlicht …«
    Ellis hat immer wieder auf das Papier gesehen, Rhett angesehen, das Papier angesehen, die Lippen bewegt.
    »Rhett«, sagt er, »du hast mir die Geschichte immer in identischen Worten erzählt.«
    »Na und?«
    »Lies das!«
    Ellis reicht ihm die Kopie eines Zeitungsausschnittes. »Eine Überlebende erinnert sich«, steht da, und darunter kleiner: »Anabel Kozlowsky

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