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Der Koffer

Der Koffer

Titel: Der Koffer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Else Buschheuer
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die sich zum Verhängnis fügen. Er versteht, was er da geschrieben hat. Er sieht sich aus dem Arztzimmer gehen, sieht sich Sonnie zurücklassen, schwanger von ihm. »Es ist eine Tatsache«, murmelt er. »Eine Tatsache.« Und liest weiter.
    9. Schritt. Wir machten bei diesen Menschen alles wieder gut – wo immer es möglich war –, es sei denn, wir hätten dadurch sie oder andere verletzt.
    Das versteht Rhett nicht. Er soll alles wieder gutmachen, es sei denn, er hat die betreffenden Menschen verletzt? Natürlich hat er die betreffenden Menschen verletzt. In jedem Fall hat er die betreffenden Menschen verletzt. Oder er soll alles wieder gutmachen, es sei denn, die Wiedergutmachung verletzt die ohnehin schon verletzten Menschen erneut? Aber wie könnte sie das?
    10. Schritt: Wir setzten die Inventur bei uns fort, und wenn wir Unrecht hatten, gaben wir es sofort zu.
    Das Präteritum macht Rhett schwermütig. Die stilschwachen Autoren dieses Pamphlets haben offenbar schon alles bestens überstanden, während sich das Drama seines Lebens gerade vor Rhett entrollt wie englischer Rasen.
    11. Schritt: Wir suchten durch Gebet und Besinnung, die bewusste Verbindung zu Gott – wie wir Ihn verstanden – zuvertiefen. Wir baten Ihn, uns Seinen Willen erkennbar werden zu lassen und uns die Kraft zu geben, ihn auszuführen.
    »Bullshit«, entfährt es Rhett.
    »Grand Central Station«, ruft der Busfahrer. »Grand Central Station. Umsteigen zu den Subway-Linien 4, 5, 6, 7 …«
    Rhett springt auf. Es ist eine Verstandesentscheidung, denkt er, durchrudert den morgendlichen Berufsverkehr, bahnt sich seinen Weg zur Subway. Kurz durchzuckt ihn die Erinnerung an Termine, die er nicht wahrgenommen hat und nicht wahrnehmen wird. Er kann jetzt nicht. Er muss nach Hause. Erst geht er auf die öffentliche Toilette. Er wäscht sich das Gesicht, die Hände. Reibt die Kotze vom beschmutzten Mantel. Wäscht sich wieder die Hände. Riecht an seinen Händen. Wäscht sie nochmals. In der Subway-Station holt er das Heft wieder hervor. Er versucht, das Titelblatt zu verdecken.
    12. Schritt: Nachdem wir ein spirituelles Erwachen erlebt hatten, versuchten wir, diese Botschaft an Alkoholiker weiterzugeben und unser tägliches Leben nach diesen Grundsätzen auszurichten.
    Elf Schritte reichen, denkt Rhett. Reichen vollauf. Der Downtown-Zug kommt. Rhett bleibt stehen wie angewurzelt. Er steigt nicht ein. Er hat Angst, nach Hause zu fahren. Er will den Konflikt austragen. Er wird ein neues Leben beginnen. Aber diesmal richtig. Diesmal nicht halbherzig. Dazu braucht er die Unterstützung seines Therapeuten. Er wird gleich zu Ellis fahren. Er wird den Uptown-Zug nehmen. Er wird nach Harlem fahren.Sonnie steigt aus dem Airtrain. Sie läuft über die Straße am JFK, läuft durch den Schnee. Hinterlässt eine Spur. In der linken Hand trägt sie eine Reisetasche, in der rechten den karierten Koffer. Ihre Haare hat sie zu einem schlampigen Pferdeschwanz gebunden. Ihr Veilchen verbirgt sie hinter einer Sonnenbrille.
    Die Mutter riecht nach Veilchen.
    Der Großvater riecht nach Pfeifentabak.
    Die Großmutter riecht nach Mottenkugeln.
    Der Vater riecht nach Tinte.
    Kommst sowieso bald wieder.
    Zwanzig Jahre, und sie trägt ein Kind. Der Kindsvater ist ein brüchiger, ein windiger Mensch. Sie ist erwachsen. Sie kann eine Mutter sein. Sie kann entscheiden, keine Mutter zu sein, nie eine Mutter zu sein, jetzt oder nie. Sie hätte die Wahl, wenn sie Illusionen hätte. Ihre Herzfrequenz ist beschleunigt, seit sie das Ticket gekauft hat.
    Bleiben Sie schön neugierig!
    Furcht überfällt sie, als sie ihren Pass zeigen soll. Furcht, die Sonnie in Amerika gelernt hat. Immer wieder hat etwas nicht gestimmt, mit ihrem Visum, ihrer Aufenthaltsgenehmigung, ihren Papieren, ihrer »Credit History«. All die Jahre hat sie sich nur geduldet gefühlt, nur durchgeschummelt, hinter ihren Männern versteckt, die ihre Schutzmänner waren, ihre Strohmänner, ihre Alibis. Durch die Ehe mit Jake hat sie die Greencard erworben, aber nie hat sie sich entschließen können, den Schwurfinger zu heben, um Amerikanerin zu werden, um wählen zu können, um Ja zu sagen zu dem Land, in dem sie ihr halbes Leben verbrachte. Ihr bisherigeshalbes Leben. Hochgerechnet auf ihr ganzes Leben, wie viel Zeit hat sie wohl hier verbracht? Wird sie sechzig werden oder achtzig? Wird sie morgen sterben oder nächstes Jahr?
    Sei doch endlich glücklich!
    »Herzlichen Glückwunsch, Mam«, sagt der

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