Der Kofferträger (German Edition)
Mehr als siebzig Prozent der infrage kommenden Bürger waren unter dreißig Jahre. Doch sagte er:
„Nehmen wir nur die über Sechzigjährigen, die für einen aktuellen Tod infrage kommen. Gehen wir zum Beispiel davon aus, dass man zu ihnen nur zehn Prozent der Bürger rechnen darf. Dann machen die besagten fünftausend Spender schon den zehnfachen Prozentsatz aus. Abgesehen von der Tatsache, dass solche Rechenspielchen meist irgendwo einen Haken haben.“
Die Widerlichkeit der Rechenaufgaben veranlasste Schütz aufzustehen , und schwerfällig im Raum herum zu spazieren. Dann musste er sich wieder konzentrieren. Der Hausherr war in seiner Euphorie weiter geeilt.
„Ich persönlich bekomme nur zweitausend DM pro Toten- und Erbschein. Lächerlich wenig, wenn man bedenkt, welchen Aufwand die offiziell auszustellenden Scheine und das Herstellen der Grabsteine erfordern. Und so einfach ist das alles nicht in diesem Lande durchzuführen. Der Staat ist keineswegs korrupt, ebenso wie Deutschland.“
Ach, auf einmal nicht, dachte Schütz. Er konnte es sich bei diesem Argument nicht verkneifen, darauf hinzuweisen, Kreuze seien nur in weniger Fällen aufzustellen. Die virtuelle Gesamtsumme, die Carlos für Deutschlands Erblasser in Paraguay einstreichen könnte, betrüge immerhin um die zehn Millionen DM.
Dann schloss er die Augen. Von dem Gemurmel seines freundlichen Gastgebers vernahm er nichts mehr. Die ganze Rechnung war abstoßend und unwürdig. Es war nicht sein Spiel, er würde dem Kanzler davon abraten. Könnte das aber bei einem solchen Kapitalkanzler gelingen?
31 Sand im Getriebe
Wie zur Geisterstunde fühlte sich Schütz in seinem Berliner Büro. Er beschloss, unter Menschen zu gehen. Bei seinem Gang zum Abschlussbier in der ‚Urquellklause‘ hing sich ihm Theo Wagner an, ein Kollege aus der Buchhaltung. Sie plauderten über Allgemeines, bis Schütz unvermittelt fragte:
" Haben Sie die Jenisch näher gekannt?“
„Die Jenisch? Die Sekretärin aus dem Büro des Kanzleramtes? Wie kommen Sie auf einmal auf die? Die hat sich doch umgebracht“, Wagner zog sichtlich erregt seine Augenbrauen zusammen.
„Genau die, haben Sie die näher gekannt?“
„Woher soll ich die gekannt haben?“
„Vielleicht nur so. Na und, haben Sie die Jenisch näher gekannt?“
„Nein, ich kannte sie, wie man so jemanden kennt.“
„Und wie kennt man so jemanden?“
Theo Wagner wurde sichtlich verlegen. Zwischen seinen Fingern zerrieb er einen Bierdeckel und legte sich mit dem linken Ellbogen auf die Theke. Schütz schaute ihm beim Drehen zu und sah, wie nervös seine Finger waren.
„Hatten Sie mit der Jenisch engeren Kontakt?“
„Herr Schütz, lassen Sie das doch bitte. Die Jenisch ist tot, mir ist ihr Tod nahe gegangen, das ist alles.“
„Ich wüsste gerne, wie sie gestorben ist? Man stürzt sich nicht einfach in die Spree und ist tot.“
„Bei der Jenisch war es aber so.“
„Waren Sie dabei?“
„Nein, wieso?“
„Woher wollen Sie dann wissen, dass es so war?“
„Na ja, ich hab es gelesen.“
„Und ich glaub das nicht, dass es so war. Noch lange nicht alles, was man liest, ist richtig.“
„Wie soll es sonst gewesen sein?“
„Wissen Sie, ob die Jenisch eine Verwandte hat, die noch lebt?“
„Sie hat bis zum Schluss bei ihrer Mutter gelebt. Ich war einmal dort zum Essen eingeladen.“
Eine leichte Röte überzog sein Gesicht. Komisch, dachte Schütz. So hart diese Burschen oft im Berufsleben sind. Wenn es an ihre persönlichen Gefühle geht, werden sie butterweich. „Ich habe eine Verpflichtung der alten Dame gegenüber, ich muss ihr zumindest das Beileid der Schatzmeisterei ausdrücken“, log er, „können Sie mir die Adresse geben.“
„Die ist im Sekretariat doch zu erhalten. Sie wohnt am Prenzlauer Berg, in der Christinen Straße 30.“
„Danke, Theo, h aben Sie die Jenisch öfter gesehen, ich meine außerhalb der Arbeit?“
„Ein, zwei Mal, mehr nicht. Sie sollten nicht meinen, ich hätte was mit der gehabt. Sie war einfach immer nur freundlich zu mir im Büro.“
„Wie meinen Sie das freundlich? So sind doch viele“? Solche Leute wie der Buchhalter hatten oft ein feines Rechtsempfinden, darauf wollte er nun pochen.
„Nicht so. Wissen Sie“, antwortete Theo. „Nicht einfach so freundlich, wie es viele sind. Fräulein Jenisch war eine Herzensdame, eine Frau, die nie herablassend war.“ Dann erfuhr Schütz etwas Bedeutsames, „sie hat mich immer als Mensch
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