Der Kofferträger (German Edition)
Als sie verschwunden waren, rief er erneut:
„Anita, Anita Schütz.“
Auf einmal drehte sie sich um. Wild gestikulierend machte er ihr Zeichen.
„Anita, ich lebe“, flüsterte er und streckte ihr seine Arme entgegen.
Sie starrte auf ihn wie auf den Geist aus der Flasche. Sie beide hatten ein lächerliches Kommunikationsproblem. Sie, die in Amerika war, unterhielt sich mit jemandem, der schon tot war. Anita starrte entsetzt, sie riss den Mund auf, um zu schreien. Die Stimme versagte ihr. Dann verschwand sie in dem Haus. Momente später kam sie mit allen vier Polizeibeamten wieder heraus. Frau Schütz fuchtelte wild mit den Armen, wies auf die Stelle, an der er noch vor wenigen Augenblicken gestanden hatte. Noch immer war sie nicht fähig zu sprechen. Die Uniformierten schwärmten genau in die Richtung ihres Fingerzeigs aus. Das hatte der Kofferträger geahnt. Im Schutz der allgemeinen Verwirrung schlich er sich in das Haus ein. In seinem Büro rettete er fahrig die digitalen Werte. Dann lief er direkt auf die Haustür zu. Anita schrie plötzlich wie Feuer. Schütz floh und stolperte über das Gelände in den anliegenden Wald.
*
Niemand würde ihn dort vermuten. Zu wenig hatte er sich bisher dafür begeistert. Ein schrecklicher Leichengestank im Bootsschuppen stieß ihn ab. Sofort hatte er wieder die Erinnerung an Klingenberg in der Nase. Die Leiche des Maskierten war hier noch nicht entdeckt worden. Er ließ das Beiboot ins Wasser und hängte den Außenborder ein. Die Ruder nicht vergessen, noch einen Fünflitertank Kraftstoff, dann stieß er ab.
Mit leichten Schlägen trieb er sein kleines Rettungsschiff hinaus in den Wannsee. Von der dunklen Nacht erwartete er, seinen Weg zu verbergen. Dennoch war es für einen Flüchtenden viel zu hell. Die Lichter aus der Kneipe, der Kirche und seinem eigenen Haus, von gegenüber die kleinen Häuschen auf der Pfaueninsel, sie alle reflektierten sich auf dem Wasser. Die schwarze Nacht erstrahlte in seinen Augen in einem hellen Lichtermeer.
Mit sanften Schlägen ruderte er nach Westen. Sein heißer Atem stieg in der kalten Luft wie Rauchsignale in den Himmel. Ohne Motorgeräusche galt es das Kastellan der kleinen Insel zu umfahren. Das allein erschien ihm wie eine Ewigkeit. Nur langsam entfernte sich Nikolskoe. Die Lichter verblassten, die Stimmen ertranken im Wasser. Mit Recht konnte er annehmen, dass mindestens vier Polizisten im Wald nach einem Phantom suchten, das sie nicht fanden. Im Haus eine irrgläubige Frau. Bald würden sie diese Frau Schütz insgeheim für hysterisch halten und versuchen, sie zu beruhigen, oder dorthin zu bringen, wo sie hingehörte – in eine Klapsmühle. Selbst das dürfte heutzutage nicht zu schwer fallen.
Hinter dem kleinen Landvorsprung der Pfaueninsel füllte Jürgen Schütz auf schwankendem Boden fünf Liter Treibstoff in den Tank des Außenborders. Mit leisem Surren verabschiedete sich das kleine Boot aus der Umgebung von St. Peter und Paul.
Die Lichter ringsherum wiesen ihm den Weg. So kurvte er hinter der Pfaueninsel in die Havel nach Nordosten und bald schon wieder nach Südosten. Ohne Zögern fuhr er in den „Wannsee Yachtklub“ ein. Am Rande, dort, wo auch einige kleine Boote lagen, vertäute er sein Dingi. In aller Ruhe schaute sich Schütz um. Ein paar Leute bummelten über den Steg. In der Bar des Klubs erzählten Segler schauriges Seemannsgarn. Ein Liebespaar bestieg in festen Windjacken gekleidet ein kleines Ruderboot. Alltägliche Geschichten, die sich in einem Yachtklub zutrugen. Niemand kümmerte sich um ihn. Höchstenfalls würde ein paar Tage später sein kleines Boot an einen anderen Poller umgelegt werden.
Demonstrativ langsamen Schrittes verließ er das Yachtgelände in den Grunewald hinein. In einer Lichtung ruhte er sich aus. Auf dem feuchten Boden sitzend atmete er tief durch.
Wenn ich durchgehe, was in den letzten Monaten geschehen ist, kann ich nur sagen: Da hört die Weltgeschichte auf, dachte er.
Nur für einen kurzen Augenblick schimmerte ein Stückchen Mond durch die ein wenig aufreißende Wolkendecke. Das bleierne Licht wirkte wie ein Signal. Metallisch glänzende Schließfächer seiner Bank sah er vor sich. Dorthin wollte er das viele Geld unter seiner Weste in Sicherheit bringen. Kopien der wichtigsten Unterlagen für die Staatsanwaltschaft lagen in dem Safe. Wenn er da noch heran könnte, durchfuhr ihn eine weitere Bedrohung. Stand nicht in den Vertragsunterlagen mit der Bank, im Todesfall
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