Der Kofferträger (German Edition)
Situation nutzte sie aus. Mit wenigen Worten berichtete sie ihrer Tante von dem geheimnisvollen Ereignis in Nikolskoe.
„Außerdem haben wir von seinem Tod nichts als das E-Mail aus Zürich“, setzte Anita ihre Attacke fort. „Es gibt keine Leiche, wir wissen nicht, wie er umgekommen ist und wer die Verantwortung dafür trägt.“
„Das ist dürftig. Die Cresson ist ein unehrliches Weib. Sie hat schon immer..“
„Schweig“, herrschte sie der Onkel an. „Wenn du etwas gegen jemanden hast, machst du ihn überall unmöglich.“
„Auf jeden Fall würde ich so handeln wie du, Anita. Vielleicht hat sie mit Jürgen gesch lafen und schützt ihn jetzt. Ja, das kann sein. Sie hat mit jedem schon Mal geschlafen.“ Marga ließ ihrer Intuition und Erfahrung freien Lauf. „Jürgen ist ein Mann, der auf Frauen wirkt. Er hat das ausgenutzt, um an Informationen heranzukommen. Sie hat ihm alle Geheimnisse verraten und versteckt ihn.“
„Quatsch“, H. B. war von ihren Worten getroffen. Im Kreis dieser schwätzenden Weiber fühlte er sich zunehmend unwohl. „Er ist tot und damit basta.“
„Ach, so einfach machst du dir das?“
Der Brief an den Staatsanwalt hatte schon genug Ärger hervorgerufen, arbeitete es im Gehirn der Kanzlernichte. Gottlob konnte Görres noch alles ins rechte Lot setzen. Bevor Schütz sie durch einen Prozess umbringen würde, müsste er selbst daran glauben, das schwor sie sich. Ihr Onkel schien ihr zu unflexibel. Verdammt er war zu alt und zu herrisch, als dass er noch die Geschehnisse um sich herum richtig beurteilen könnte. Je mehr sie sich diesen Gedanken hingab, umso zorniger wurde sie, sie musste das Heft selber in die Hand nehmen. Von ferne hörte sie die Worte des Onkels.
„Zu einfach? So ein Blödsinn. Es ist die Wahrheit, was ich sage. Aber du machst ein Drama da herum.“
„Ach so, ein Drama“, wütete Anita,“in die drei Zeilen einer E-Mail bettest du deine Wahrheit, vielleicht, weil die Nachricht aus dem Büro der Cresson stammt. Du vertraust ihr besonders, oder wie?“
„Er hat allen Grund dazu“, bestätigte Marga.
„Schweig. Hier geht es um Politik, davon hast du keine Ahnung. Lass uns alleine.“
„Gehe davon aus“ wandte sich Marga an ihre Nichte, „in seinem Umfeld spielen Frauen nur für das Bett eine Rolle. Ansonsten können sie sich umbringen.“
„Schweig“, rief H. B., „gehe an deine Arbeit.“
„Ich möchte aber, dass Tante Marga dabei bleibt“, Anita sah nur in ihrer Tante die Unterstützung, die sie brauchte. Sie wusste, dass sie noch nie so weit gegangen war. Jetzt aber kam es darauf an, den richtigen Schritt zu tun. Es ging um Sein oder Nichtsein.
„Wenn du auch viel in deinem Leben richtig gemacht hast“, fuhr sie fort. „Jetzt machst du immer mehr falsch.“
Diese Unverschämtheiten brauchte er sich nicht gefallen lassen. Niemals hätte sie ihm diese Jugendhaftigkeit zugetraut. Mit einem einzigen Satz sprang er auf und knallte Anita eine Ohrfeige ins Gesicht. „Du hast von nichts eine Ahnung, nur von Geld“, schrie er sie an.
Nur eine Sekunde stand sie sprachlos vor ihrem Onkel. Eine Ohrfeige hatte sie noch nie von ihm bekommen. Jetzt, Mitte dreißig, musste er sie schlagen. Noch nicht einmal ihr Vater hatte sie geschlagen, überhaupt noch nie jemand. Ihr Zorn wandelte sich in Hass.
Sehr leise sagte sie: „Wer spricht hier nur von Geld?“ Dann schrie sie plötzlich diesen Hass heraus. „Der Einzige, der immer von Geld quatscht, bist du. Alle deine Handlungen, deine Bewegungen, alles ist Geld, Geld, Geld. Du bist mit Geldscheinen bepflastert. Du hast mich mit Geld groß gezogen, hältst mich mit Geld. Und nicht nur mich. Es gibt auch noch etwas anderes als Geld.“ Sie holte gerade Luft, um weiter zu reden, als ihr H. B. ins Wort fiel.
„Und du bist diejenige, die noch nicht einmal mit Geld satt zu kriegen ist. Dein Reden drehte sich unentwegt um diesen einen Punkt, dein Leben, deine Ehe, deine Freunde, dein Haus. Ach ja, dein Haus, von wem hast du denn das schöne Haus? Für Geld hast du dich verkauft und andere gekauft wie deinen Mann.“
Er wandte sich ab.
„Ach, was soll das alles? Aber, wenn es dich beruhigt, fliege nach Zürich und schaue nach.“
Anita drehte sich um und verließ zornig das Haus. Wie eine Demütigung brannte die Ohrfeige auf ihrer Wange.
Zum ersten Mal trennten sie sich in Unfrieden.
*
Frau Cresson hatte ihr angeboten, zum Flughafen Kloten herauszukommen. Die Frau des liquidierten
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