Der Kofferträger (German Edition)
die ersten Frühnachrichten um fünf Uhr. Fuhren sie schon ins Gebirge nach Westen, um dann nach Neapel zu gelangen? Die Strecke wurde kurvenreicher, es ging ins Gebirge. Auch nicht mehr so schnell. Oft quietschten die Reifen. Die Sonne würde um diese Jahreszeit noch lange nicht aufgehen. Daran die Richtung ihres Weges zu erkennen würde noch eine ganze Weile dauern. Sie waren jetzt eine Stunde und dreißig Minuten unterwegs, als der Wagen sehr langsam fuhr. Sie wurden in die Rückenlehne gedrückt und schwankten nach links und rechts. Eine Passstraße, sehr steil. Das Fahrzeug hielt an, das Fahrerfenster fuhr abwärts, ein kurzes Palaver, sie fuhren in einen Hof, dann hielten sie endgültig an. Mit noch immer verbundenen Augen wurde sie in ein Haus geführt, eine steile schmale Wendeltreppe führte nach oben. Mit einem Schlag in den Rücken wurden sie in einen Raum gestoßen. Hinter ihnen schloss sich eine Tür, von außen wurde ein Riegel vorgeschoben. Stille.
„Ich rieche Wasser, den Duft von Nadelbäumen“, Jürgen war bereits bei der Analyse ihres Aufenthaltsortes.
„Wir sind etwa sechzig bis achtzig Kilometer nach Westen gefahren. Also sitzen wir inmitten des Appenin von Lucano“, antwortete sie.
„ Woher weißt du das?“, fragte er überrascht.
„Wir sind nur ein kurzes Stück auf gerader Strecke gefahren. Dann ging es in einer scharfen Rechtskurve in eine andere Straße. Das Fahrzeug wurde langsamer. Nach links konnte es nicht gehen, da liegt der Golf. Nach rechts aber liegt dieser Gebirgsteil. Ich war ein paar Mal in den Ferien dort. Meine Eltern waren stets sehr bedacht, uns unsere Heimat näher zu bringen.“
Sie standen mit verbundenen Augen voreinander, die Hände auf dem Rücken gefesselt.
„Wir warten noch zwanzig Minuten, dann werden wir aktiv“, sagte er.
„Warum zwanzig Minuten?“
„Die Banditen haben kaum geschlafen heute Nacht. Entweder sie kommen gleich zurück, um unser Leben bequemer zu machen, oder sie sind längst eingeschlafen. Dann aber haben wir etwas mehr Zeit. Ich denke, sie werden länger schlafen.“
Sie warteten nur fünf Minuten.
„Corinna, ich werde dir jetzt sehr nahe kommen“, sagte er.
„Ich freue mich darauf“, antwortete sie.
Jürgen war so angespannt, dass er ihre Zärtlichkeit überhörte.
„Ich werde versuchen mit meinen Zähnen deine Augenbinde abzureißen.“
Das war in weniger als zwei Minuten geschehen. Dann machte sie das Gleiche mit seiner Augenbinde. Jetzt fanden sie Zeit für einen intensiven Kuss. Mit seinen Zähnen löste Jürgen die Fesseln an ihren Händen. Corinna beeilte sich, seine aufzuknoten. Jetzt konnten sie sich frei bewegen. Der Raum war sechseckig mit einer Kantenlänge von etwa zwei Metern. Corinna schaute aus dem der Tür gegenüberliegenden Fenster. Leichenblass wandte sie sich zu ihm um. Ihre Hände begannen zu zittern. Ihre Augen waren weit aufgerissen. Ihr ganzer Körper begann zu beben. Sie öffnete ihren Mund wie zu einem unendlichen stillen Schrei. Die Enge des Raumes, die niedrige Decke, die Turmhöhe mit zwanzig Metern versetzten sie in Panik.
Jürgen hielt sich an den rauen Wänden fest und lief um den Umfang herum. Sie schaute ihn hoffnungslos und panisch an.
„Gehe an den Wänden entlang und miss die Seitenkanten. Halte dich dabei mit den Handflächen an den Wänden fest. Ich brauche die genaue Seitenlänge.“
Corinna zögerte, dann erhob sie sich von der Holzbank. Sie begann in der Ecke nahe der Tür. Sie stellte einen Fuß in die Ecke, legte seitwärts beide Handflächen auf den rauen Putz und Schritt die Kantenlänge ab. Das machte sie bei allen sechs Kanten. Sie schaute ihn fragend an.
„Ich denke, jede Kante ist zwei Meter lang. Es gibt sechs Kanten.“
„Zehn Quadratmeter“, sagte er.
„Was machst du da? Was soll das?“, wollte sie wissen.
„Ich habe den Flächeninhalt dieses Zimmers berechnet“
„Was wollen wir damit?“
„Komm zum Fenster.“
Sie schauten in die Tiefe.
„Wie viel Meter sind das, schätzungsweise?“, fragte er sie.
„Ich kann schlecht schätzen“, zögerte sie mit der Antwort. „Vielleicht fünfzehn, vielleicht zwanzig.“
„Es sind genau zwanzig Meter. Ich habe die Stufen gezählt, als wir hinaufgingen. Es sind einhundertsiebzehn Stufen. Bei der Wendeltreppe bei meiner Großmutter habe ich einmal als kleiner Junge die Stufenhöhe gemessen, einfach so, weil es mich interessierte. Jede Stufe hatte exakt eine Höhe von siebzehn Zentimetern. Das sind also
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