Der Kojote wartet
»Möglicherweise hat Ashie seine Post selbst abgeholt und einen Brief von Dr. Tagert bekommen, den er Mary gar nicht gezeigt hat. Möglicherweise hat er ihn von jemand anders vorlesen und beantworten lassen.«
»Genau!« sagte Leaphorn zufrieden. »Aber vielleicht auch nicht. Andererseits kaufen die Pintos in Short Mountain ein, nicht wahr?«
»Das war auf jeden Fall seine Postanschrift.«
»Okay, dann fragen wir mal nach.«
Die Straße von der U.S. 89 zum Handelsposten Short Mountain war etwas besser, als Leaphorn sie aus seiner Zeit als Streifenpolizist in Tuba City in Erinnerung hatte. Kiesaufschüttungen und Planierarbeiten hatten ihren Zustand von schrecklich zu ziemlich schlecht verbessert. Leaphorn steuerte seinen Streifenwagen vorsichtig über die waschbrettartige
Fahrbahn und wich den tiefen Schlaglöchern aus. Die Abenddämmerung brach bereits herein, als sie zum Short Mountain Wash hinunter und auf den ungeteerten Hof des Handelspostens rollten.
Der Hof war leer. Leaphorn parkte vor der Veranda, stellte den Motor ab und blieb noch sitzen. Er dachte daran, wie er vor vielen Jahren einmal mit Emma hergekommen war, weil sie den alten John McGinnis kennenlernen sollte. Er hatte ihr McGinnis geschildert, wie er ihn kannte: auf seine Art ehrenwert, aber unausstehlich launisch, boshaft, griesgrämig, pessimistisch, klatschsüchtig und oft beleidigend. Über dem Eingang verkündete ein an den Firstbalken des Verandadachs genageltes, fast unleserliches Schild:
GESCHÄFT ZU VERKAUFEN ANFRAGEN HIER
Das Schild hing seit mindestens einem halben jahrhundert dort oben. McGinnis hatte es angeblich schon wenige Wochen nach dem Tag angebracht, an dem er den Handelsposten dem Mormonen abgekauft hatte, der ihn eröffnet hatte. Der Legende nach war der junge McGinnis bei diesem Handel aufs Kreuz gelegt worden. Wer ihn kannte, hielt das für sehr unwahrscheinlich.
»Er ist ein Grobian«, hatte Leaphorn Emma gewarnt. »Ein Kerl ohne Manieren, der dich vielleicht anschnauzt. Aber ich möchte, daß du ihn dir ansiehst. Mich interessiert, was du von ihm hältst.«
Damals war John McGinnis boshafterweise charmant und höflich gewesen. Er hatte Emma lächelnd Komplimente gemacht, ihr die schönsten bei ihm verpfändeten Sachen gezeigt und seine Sammlung mit Lanzenspitzen, Töpfen und verschiedenen Artefakten vorgeführt. Emma war entzückt gewesen.
»Ich weiß gar nicht, warum du immer über ihn schimpfst«, hatte sie gesagt. »Er ist ein guter Mann.«
Sie hatte recht wie immer, wenn es um die Beurteilung von Menschen ging. Auf seine knorrige, exzentrische Art war John McGinnis ein guter Mann.
Leaphorn hatte gemerkt, daß Professor Bourebonette zu ihm herübergesehen und sich dann wieder abgewandt hatte. Vermutlich fragte sie sich, weshalb er einfach nur dasaß. Aber sie schwieg und machte keine Anstalten, ihre Tür zu öffnen. Sie war bereit, auf ihn zu warten, weil sie spürte, wie wertvoll dieser Augenblick für ihn war.
Er mußte sich eingestehen, daß diese Frau ihn beeindruckte. Aber ihr Einfühlungsvermögen war bestimmt etwas, das man in ihrem Beruf bewußt pflegte - um gut mit denen zu harmonieren, die man ausfragen wollte. Wie lange würde diese angelernte Geduld Vorhalten?
Die vom Short Mountain Wash kommende kühle Abendbrise trieb Tumbleweeds vor sich her in Richtung Veranda. Erst das Wasserfaß hielt sie auf. Die Gebäude hatten schon baufällig und einsturzgefährdet gewirkt, als er sie zum ersten Mal gesehen hatte. Im roten Widerschein des Sonnenuntergangs sahen sie noch schlimmer aus. Ein Anbau des Hauptgebäudes war teilweise niedergebrannt und nicht wieder aufgebaut worden; die Scheune war sichtlich nach links geneigt. Selbst die Veranda schien unter der Last des Alters und der Einsamkeit zusammengesackt zu sein. Über der Ladentür flackerte eine in der Abenddämmerung nur schwach leuchtende nackte Glühbirne auf.
»Aha!« sagte Leaphorn. »Er macht eigens für uns auf. Kommen Sie, wir wollen mit ihm reden.«
»Ich bin ihm nur einmal begegnet«, sagte die Professorin. »Er hat mir geholfen, einige Leute zu finden. Soweit ich mich erinnere, kam er mir ziemlich alt vor.«
»Er kannte sogar noch meinen Großvater«, stellte Leaphorn fest. »Das behauptet er jedenfalls.«
Bourebonette zog die Augenbrauen hoch. »Das klingt skeptisch.«
Leaphorn lachte. »Oh, ich glaube, daß er ihn tatsächlich gekannt hat. Aber bei McGinnis ...« Er lachte wieder.
Die Ladentür öffnete sich. John McGinnis
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