Der Komet
auf Gedeih oder Verderb (also: auf Gedeih) miteinander wirtschaftlich verflochten gewesen. Diese Verflechtung hatte sich seither wie von selbst immer enger gezurrt. Der Reichtum der Einwohner des christlichen Abendlandes war im Laufe des 20. Jahrhunderts immer mehr gewachsen, sodass der letzte ruthenische Bauer heute – relativ gesehen – in einem Komfort lebte, um den ihn nicht nur seine Vorfahren, sondern auch die Fürsten früherer Zeiten beneidet hätten. Zu der sozialen Ordnung der Doppelmonarchie war keine andere Alternative denkbar als ein allgemeines Hauen, Stechen und Bluten, ein Rückfall in das namenlose Grauen, das Europa von 1618 bis 1648 heimgesucht hatte. Wer, bitte, hätte daran ein Interesse haben sollen?
»Wir haben so eine fesche Armee«, sagte der Rabbiner, »mit bunten Uniformen, mit Litzen und Kokarden. Was sollen wir mit dieser Armee denn anfangen – Krieg führen?« Er bestellte noch einen Piccolo, Dr. Wohlleben noch eine Schale Gold; Grausenburger nahm einen weiteren Schwarzen, verzichtete aber mannhaft auf einen zweiten Gang Buchteln. Mit wohligem Schaudern sprachen die drei Hofräte honoris causa dann über die barbarischen Praktiken früherer und weniger aufgeklärter Zeitalter. Waren sie nicht allesamt schon im 19. Jahrhundert nach und nach berichtigt worden? Kardinal Grausenburger erinnerte an das Beispiel der Sklaverei: Das Empire hatte den Sklavenhandel anno 1807 für illegal erklärt (William Wilberforce sei Dank
Hinweis
). Seit damals hatten Kriegsschiffe der Royal Navy auf den sieben Weltmeeren jedes einzelne Sklavenschiff aufgebracht, bis jenes alte Übel endlich ausgemerzt war. Und die Hinrichtung mit dem Würgegalgen
Hinweis
– war sie in der Donaumonarchie nicht schon im Vierunddreißigerjahr abgeschafft worden? Waren nicht immer neue Gesetze erlassen worden, um dieArbeiterschaft, die Witwen und Waisen, die Alten, die geistig und körperlich Gebrechlichen, die Arbeitslosen, die Ungeborenen zu schützen? Nach der Revolte von 1968 hatten sogar Frauen das Wahlrecht erhalten! Wie hätte es da anders weitergehen sollen als vorwärts und aufwärts – immer entschiedener der Sonne des Guten, der Brüderlichkeit, der Vernunft entgegen? Es war doch allgemein bekannt, dass konstitutionelle Monarchien keine Kriege gegeneinander führen.
Während sie einander in der Debatte immer mehr anfeuerten, dachte Dr. Wohlleben an einen seltsamen Roman, der ihm vor ein paar Tagen ganz buchstäblich vor die Füße gefallen war (gerade so, als hätte eine unsichtbare Hand ihm den Papierpacken mit einem sanft staubenden Knall vor die Füße gelegt). Das Malheur passierte, als er sich zwischen den Regalen einer antiquarischen Buchhandlung im Alsergrund herumtrieb: Wohlleben hatte das Buch vom Boden aufgeklaubt und an seinem Schenkel abgeklopft. (Warum ging ihm eine solche Nebensache just in diesem Moment durch den Kopf? Das wusste er selber nicht.) Der Roman hatte ihn einen Spottpreis gekostet: fünf Kronen, ein Erstdruck aus dem Jahr 1925. Es war eine merkwürdige Lektüre gewesen, fesselnd, aber nicht angenehm; das Ganze mochte von einem Albtraum handeln, aus dem der Protagonist bis zum Schluss nicht mehr herausfand, aber er war in einer gestochen scharfen Sprache beschrieben, die gar nicht zu einem Traumprotokoll passte. Alles in diesem Buch schien etwas zu bedeuten, aber nichts reimte sich zusammen. Finsternis, wohin man blickte. Offenbar wurde der Mensch, von dem das Buch handelte, unschuldig verhaftet, aber hinterher benahm er sich dann die ganze Zeit so, als sei er schuldig. Und das unheimliche Gericht, das ihn verurteilte, sollte ja wohl ein Witz sein. Warum tagte es sonst in schlechtbelüfteten Dachböden? Es schien sich um eine Metapher zu handeln, aber stand das Gericht als Sinnbild für eine irdische oder für die himmlische Obrigkeit? Nur eines war sonnenklar: Mit der Wirklichkeit hatte der Albtraum dieses Autors – er hieß lustigerweise beinahe so wie Anton Wohllebens Zahnarzt – nicht das Mindeste zu tun. Der Psychoanalytiker vermutete stark einen Vaterkomplex, es ließ jedenfalls tief blicken, wie dieser K. seine Frauengestalten beschrieb. Insgesamt war das Buch Wohlleben ein wenig lachhaft vorgekommen: Da wurde ein Mensch verhaftet, wahrscheinlich wegen nichts, es gab für ihn keine Möglichkeit des juristischen Einspruchs, am Ende stieß ihm ein Grobian ein Messer ins Herz und drehte es zweimal um. Wo hätte man dergleichen schon einmal gesehen?
Übrigens kannte kein Mensch
Weitere Kostenlose Bücher