Der Komet
gottgefälliges Leben führt. Eines Tages tritt ein Wanderprediger in seiner Nähe auf, und der Fischer schließt sich ihm an – der Leser begreift allmählich: Jener Fischer heißt Schimon, der Wanderprediger ist ein Rabbi namens Jeschu Ben Joseph aus Galiläa.
Während der Teil mit den ungelesenen Romanseiten stetig dünner wird, sehen wir dem Rabbi und seinem Jünger beim Älterwerden zu; am Schluss stirbt Jeschu Ben Joseph, den manche seiner Anhänger ehrfurchtsvoll den Moschiach genannt haben (den königlich Gesalbten), alt und lebenssatt im Kreise seiner Kinder und Enkel. Er konnte nicht von den Römern ans Kreuz geschlagen werden, weil die Römer das Land Israel nie erobert haben: es gab also auch nie einen Pontius Pilatus, der seine Hände in Unschuld wusch, während er zugleich den Befehl zur Hinrichtung erteilte. Und wäre das, dachte der Oberrabbiner von Wien, nicht überhaupt viel besser gewesen? Die Israeliten wären Israeliten geblieben und die Heiden einfach Heiden. Der Glaube an den Einzigen und Einen, den Körperlosen und Unbegreiflichen hätte sich auf jenen winzigen Landstrich am Mittelmeer beschränkt. Der heilige Tempel in Jerusalem würde noch stehen. Die Kohanim – die Priester Israels – würden dort den vorgeschriebenen Gottesdienst verrichten und Zicklein und Lämmlein schlachten, während die Heiden sich weiterhin vor ihren Götzen beugten und ihre Erstgeburt ins Feuer schickten (selbstverständlich ließ sich Turteltaub in seinem Roman die Schilderung eines Kindesopfers an Moloch nicht entgehen). Wenn Hannibal mit seinen Kriegselefanten das alte Rom in den Boden gestampft hätte, wäre es nicht zu jener Durchdringung der heidnischenWelt mit monotheistischem Gedankengut gekommen, die dazu geführt hat, dass Vokabeln wie »Hoffnung«, »Zukunft« und »Gerechtigkeit« – jüdische Vokabeln, wenn man sie bis auf ihren Wesensgrund durchdenkt – heute zum Allgemeingut der Menschheit gehören. Und war nicht just dies: die Durchdringung der heidnischen Welt mit Jüdischem, als die tiefste (nämlich theologische) Ursache für den Antisemitismus anzusehen?
Hätte Hannibal anno 202 vor der verhängnisvollen Geburt jenes Jeschu Ben Joseph in Nordafrika gesiegt, dachte der Rabbi, wären weder das Christentum noch der Islam entstanden – was wäre uns Juden in diesem Fall nicht alles erspart geblieben! Andererseits wiederum: Ohne Christentum, ohne Islam, ohne die Auseinandersetzung zwischen beiden auch keine Donaumonarchie. Und darum wäre es doch furchtbar schade gewesen. Denn ohne Habsburgerreich würde ich jetzt nicht hier im Café Central sitzen.
Selbstverständlich sagte Prof. Dr. Adolf Brandeis nichts von alldem laut. Stattdessen meinte er, zur Seite an seinen Freund, den Psychoanalytiker, gewandt: »In den Schriften zur angewandten Seelenkunde habe ich deine Studie über den Weltuntergangsträumer gelesen. Hochinteressant.«
»Ich weiß wieder einmal von gar nichts«, sagte Heinrich Grausenburger, der unter seinen Buchteln mittlerweile ein vollendetes Massaker angerichtet hatte. »Bitte um Aufklärung.«
»Toni hat einen Patienten, einen gewissen Herrn B., der dauernd vom Weltuntergang träumt«, informierte der Rabbi den Kardinal. »Ihm träumt, kurz gesagt, dass unser Jahrhundert in einer Gewaltorgie untergegangen ist. Toni spekuliert in seinem Aufsatz – sehr lesenswert übrigens –, dass in diesen morbiden Zwangsvorstellungenein Todestrieb zum Ausdruck kommt, ein … wie hast du es gleich noch genannt?«
»Thanatos-Prinzip«, sagte Dr. Wohlleben. »Auf alle Fälle träumt B. davon, dass die Geschichte aus irgendwelchen Gründen anders verlaufen ist als in der Wirklichkeit. In letzter Zeit träumt ihm übrigens häufig, dass es in Europa einen Riesenpogrom, quasi eine Bartholomäusnacht gegen die Juden, gegeben hat.«
»Und wer hat diese Bartholomäusnacht in seinen Träumen verübt«, erkundigte sich der Rabbi, »die Franzosen?«
»Nein«, antwortete Anton Wohlleben, »die Deutschen.«
»Aber nicht wirklich?«, fragte der Oberrabbiner von Wien rhetorisch und lachte. »Läppisch! Die Deutschen sind ein Kulturvolk. Die Deutschen haben den wunderbarsten von allen Komponisten hervorgebracht: Johann Sebastian Bach. Und den herrlichen Richard Wagner. Unter uns: auch Beethoven war einer von ihnen, er hat uns nur den großen Gefallen getan, hier in Wien taub zu werden. Ein Volk, das solche Genies, solche Musik hervorgebracht hat, wäre doch zu einer echten Bestialität gar nicht
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