Der Komet
sich, fünftens, bilden mussten – und so weiter, bis zum Anbeginn der Schöpfung zurück. Und unser Passant ist unter dem Fensterbrett spaziert, weil er gerade über seinen Beruf nachgedacht hat; seinen Beruf aber übt er aus, weil er essen muss; essen muss er, weil er ein Mensch ist – auch hier reicht die Kausalkette zum Anfang zurück. Die beiden Ketten treffen sich: bums, owidraht. Auf gut Deutsch gesagt.«
»Und was wird dann aus eurer gut-katholischen Willensfreiheit?«, fragte der Rabbi hinterlistig. »Nein, nein. Großer Irrtum. Nichts hätte so kommen müssen, wie es kam. Es ist mir nicht bestimmt gewesen, dass ich gestern bei ›Rigoletto‹ die Andrea sehen werde. Und es war inunserem Beispiel nicht vorherbestimmt, dass der Topf dem Passanten auf die Glatze fällt. Ich sage euch: Bis zum letzten Moment, bis zum Augenblick des Auftreffens auf dem Schädel, hätte es auch anders kommen können. Der Passant hätte aufschauen und beiseitetreten können. Ein zweiter Windstoß hätte den Blumentopf aus seiner Bahn wehen können.«
»Und wie ist das in der Geschichte?«, wollte Dr. Anton Wohlleben wissen. »Ist in der menschlichen Geschichte auch alles Zufall?«
Der Oberrabbiner von Wien schwieg. Ihm fiel ein Buch ein, das er vor ein paar Wochen gelesen hatte. Die Lektüre war ihm ein wenig peinlich, denn es handelte sich um einen äußerst populären Roman: Sein bunter Einband zierte mittlerweile jede Buchladenschaufensterscheibe und lag in hohen Stapeln in den meisten Flughäfen der Donaumonarchie herum. Auf dem Einband des besagten Machwerkes – unter uns gesagt: eines sehr vergnüglichen solchen, der Rabbi hatte die Lektüre genossen – war ein wilder Krieger in einer antiken Rüstung abgebildet, neben ihm ein Elefant, der ein goldenes Feldzeichen in den Staub trat, auf dem vier Buchstaben zu erkennen waren: SPQR, die Abkürzung für »Senatus Populusque Romanus«, also: der Senat und das Volk von Rom. Der Titel des Buches war Hannibal Barkas – Herrscher über Italien. Adolf Brandeis hatte als Knabe (wie die meisten jüdischen Gymnasiasten in der Donaumonarchie) eine ausgesprochen intensive Hannibal-Phase durchlaufen; er hatte mit diesem großen Feldherren gezittert, war im Geist bei seinem Gewaltmarsch über die Alpen mitgestiefelt, hatte den Trompetenschrei seiner Kriegselefanten gehört. »Chan-i-Baal« – der Mann, der dem Gotte Baal angenehm ist – hatte gegen die Römer jede Schlacht gewonnen bis aufdie letzte: die Schlacht bei Zama in Nordafrika. Immer war Brandeis das Schicksal dieses Feldherrn ungerecht erschienen, der am Schluss – mutterseelenallein, im Stich gelassen von der Stadt, für die er gekämpft hatte – lieber Gift schluckte, als den Römern in die Hände zu fallen. Karthago war der Name seiner Heimat, die er als erwachsener Mann so gut wie nie betreten hatte: das heißt »Kart-Chadascht«, die neue Stadt. Eine Kolonie der Phönizier in Nordafrika, so wie New York früher einmal eine Kolonie der Engländer in Amerika gewesen ist; eine Seefahrermetropole, in deren Gassen eine semitische Sprache gesprochen wurde, mehr am Handel mit fremden Völkern interessiert als an ihrer Unterwerfung.
Hannibal Barkas – Herrscher über Italien von Richard Turteltaub erzählte in groben Zügen vom Leben des Polybios, eines Griechen vornehmer Herkunft, der als junger Mann in karthagische Gefangenschaft geriet, danach an der Seite von Hannibal in die Schlacht ritt und dadurch zum offiziellen Historiografen der karthagischen Republik aufstieg. In seinem Hauptwerk, den »Historien«, pries er die Verfassung von Karthago mit ihrer Mischung aus aristokratischen und demokratischen Elementen als vorbildlich; außerdem stellte er dort die These auf, dass Seemächte grundsätzlich die Freiheit lieben, während landgestützte Imperien immer zur Unterdrückung anderer Kulturen neigen.
Sehr lebendig – nämlich aus eigener Anschauung – beschrieb Polybios, wie das perfide Rom endgültig besiegt, seine Mauern geschleift, die Asche seiner Häuser mit Salz bestreut wurde, sodass von ihm nicht einmal mehr eine Erinnerung blieb. Voilà, ein ganz anderer Geschichtsverlauf als jener, der sich in unseren braven Schulbüchern findet! In dem reißerischen Wälzer von Richard Turteltaub gab es allerdings noch einen zweiten Handlungsstrang. Etwa150 Jahre nach diesen blutigen Ereignissen begegnen wir einem Fischer an einem See, der jeden Morgen mit dem Boot hinausfährt, seine Netze auswirft und im Übrigen ein
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