Der Komet
den Namen des Schriftstellers, auch die literarisch Hochgebildeten unter Dr. Wohllebens Freunden hatten noch nie von ihm gehört.
Sosehr der Rabbi, der Kardinal und der Psychoanalytiker sich also auch gemeinsam darauflosphantasierend mühten: Sie fanden keinen welthistorischen Unfall, der den Fortschritt im k. u. k. Reich hätte aufhalten können – der diesen Fortschritt zur Humanität auch nur infrage gestellt hätte. Kein Attentat im Inneren, keine Invasion von außen. (Nicht einmal ein neuerlicher Türkenüberfall hätte die Doppelmonarchie in ihren Grundfesten erschüttern können: Das erschien hier im orientalischen Ambiente des Café Central so klar wie vielleicht nirgendanderswo auf der Welt.) Der Blumentopf ruhte fest und sicher auf seiner Marmorunterlage; der Passant – die Menschheit – marschierte, die Hände in den Hosentaschen, fröhlich pfeifend unter dem Fensterbrett hinweg. Schließlich trat der dunkelhaarige Kellner mit demOberlippenfliegenbärtchen an ihren Tisch, um die Herrenrunde abzukassieren. Sie waren dieses Mal billig davongekommen: 28 Kronen und zehn Heller, macht aufgerundet dreißig; ergebensten Dank, die Herrschaften, Eminenz, meine Verehrung, g’schamster Diener, bitte besuchen Sie uns bald wieder einmal. »Also, eines weiß ich«, fasste Heinrich Grausenburger hinterher zusammen, als sie draußen in der feuchtkühlen Nachtluft ihre Schals umlegten. »In einer Welt, wie sie sich dein Patient, lieber Toni, zusammenträumt, würde ich nicht leben wollen. In einer solchen Welt möcht ich lieber tot sein.«
Darauf schieden die drei Hofräte voneinander und entfernten sich, jeder an seine Statt.
VIII.
Ecce homo
Seine Kaiserliche und Königliche Majestät, Franz Joseph II ., von Gottes Gnaden Kaiser von Österreich und König von Ungarn und Böhmen, von Dalmatien, Kroatien, Slawonien, beiden Galizien, Lodomerien und Illyrien; König von Jerusalem; Erzherzog von Österreich; Großherzog von Toskana und Krakau; Herzog von Lothringen, von Salzburg, Steyer, Kärnten, Krain und der Bukowina; Großfürst von Siebenbürgen, Markgraf von Mähren; Herzog von Ober- und Niederschlesien, von Modena, Parma, Piacenza und Guastalla, von Auschwitz und Zator, von Teschen, Friaul, Ragusa und Zara; Gefürsteter Graf von Habsburg und Tirol, von Kyburg, Görz und Gradisca; Fürst von Trient und Brixen; Markgraf von Ober- und Niederlausitz und in Istrien; Graf von Hohenems, Feldkirch, Bregenz, Sonnenberg; Herr von Triest, von Cattaro und auf der Windischen Mark; Großwoiwode der Woiwodschaft Serbien –
… also kürzer und genauso gut: Der Monarch frühstückte. Er nahm sein Frühstück im Speisesaal in Schönbrunn mit seinen Kristalllüstern und Goldtapeten, der für einen einzigen Menschen viel zu groß war, nicht in der intimen Atmosphäre seines Bureaus. Eigentlich gab es für so viel Formalität keinen Anlass: Der Kaiser war allein und erwartete keine Gäste. Seine Gemahlin hatte sich am Vorabend mit dem Hubschrauber nach Budapest fliegen lassen, wo sie einen wichtigen offiziellen Termin wahrnahm (es ging um die Einweihung eines neuen Spitals für krebskranke Kinder). Warum ließ sich der Kaiser sein Essen also an dieser elend langen Tafel auftischen, wo er fast ein bisschen verloren aussah? Weil ihn an diesem frühenMorgen das Verlangen nach Zeremonie und Kostbarkeit gepackt hatte. (Er war schließlich auch nur ein Mensch.) Der Monarch frühstückte zwei Eier im Glas mit etwas frischem Schnittlauch sowie Salz und Pfeffer, dazu eine resche Semmel mit Bauernbutter; danach – er liebte Süßes – ein Kipferl mit Marillenmarmelade und eine kleine Porzellankanne voller starkem, schwarzem Assam-Tee. Im Grunde befand sich alles in der wunderbarsten Ordnung: Weder eine Staatskrise drohte noch eine Geldentwertung, auch diplomatische Verstimmungen waren nicht zu befürchten – nur mit der Laune Seiner Majestät stand es nicht zum Besten.
Jawohl, Franz Joseph II . ärgerte sich. Er war, auf gut Deutsch gesagt, grantig. Er hatte den Tag wie gewohnt um drei viertel fünf mit einer privaten Morgenandacht begonnen (er war sehr katholisch, das lag in der Familie); im Anschluss hatte er Roman empfangen, seinen ruthenischen Burschen. Roman – ein hübscher, junger, athletisch gewachsener Riese mit wulstigen Lippen – zwiebelte ihn dreimal pro Woche mit gymnastischen Übungen. Diesmal hatten sie mit Kniebeugen angefangen (»Arme in Vorhalte, Euer Majestät«), weiter ging es mit Liegestützen (»bis ganz
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