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Der Komet

Der Komet

Titel: Der Komet Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hannes Stein
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fähig. Die Franzosen dagegen …« Prof. Dr. Brandeis dachte an den blutigen Schlamassel der Französischen Revolution. Er dachte auch an den unglückseligen Hauptmann Alfred Dreyfus, der wegen eines Verrats, den er nicht begangen hatte, am Ende des 19. Jahrhunderts auf die Teufelsinsel verbannt worden war; an den antisemitischen Mob, der durch die Straßen von Algier und Paris tobte, Scheiben einwarf, Stoffpuppen verbrannte.
    »Eine Bartholomäusnacht im europäischen Maßstab an den Kindern Israels«, sinnierte der Kardinal von Wien. »So etwas wäre für uns Christen ja ein ungeheures theologisches Problem. Warum? Jeder Theologiestudent lernt heute im ersten Semester: Die Israeliten sind das Volk von Gottes erster Liebe. Paulus, Brief an die Römer, Kapitel 11:Wir Heidenchristen sind auf den alten jüdischen Ölbaum nur aufgepfropft. ›Nicht du trägst die Wurzel, sondern die Wurzel trägt dich‹ und so weiter. Wenn es nach all den furchtbaren Pogromen, die doch – bitte – hoffentlich für immer der Vergangenheit angehören, noch einmal eine Judenverfolgung geben würde, müsste man geradewegs an Gottes Liebe zweifeln. Nein, ich muss es schon brutaler sagen: Nicht nur zum Zweifeln hätte man dann Grund, sondern auch zum Verzweifeln. Wir Christen hätten uns obendrein eine gehörige Watschen verdient.«
    »Ich habe übrigens eine interessante Neuigkeit«, sagte Dr. Anton Wohlleben. »In unserer letzten Sitzung heute Morgen – aber das bleibt unter uns, bitte –, also, heute Morgen hat er mir erzählt, dass in einem von seinen Träumen auf einmal die Anne Frank aufgetaucht ist. Und in seinem Traum ist sie schon als Kind umgebracht worden.« Diese Meldung rief umgehend Heiterkeit hervor. Man sah Anne Frank ja wieder häufig im Fernsehen, seit sie im vergangenen Jahr den Literaturnobelpreis für das Deutsche Kaiserreich geholt hatte. Sie war jetzt ein barockes Mädchen von 71 Lenzen – klein, witzig, faltig, ernsthaft, mit wehend-schlohweißem Haar und schönen dunklen Augen –, babbelte munter den Dialekt ihrer Vaterstadt Frankfurt, genoss ihre Berühmtheit und tat auch ungefragt ihre Ansicht zu jedem Thema unter der Sonne kund: seien es Frauenrechte, der Sozialismus oder Molekularkraftwerke. Manchen galt Anne Frank deshalb als schreckliche Nervensäge. Den Nobelpreis hatte sie allerdings nicht für ihre Meinungen, sondern für ihr literarisches Gesamtwerk bekommen. Für ihr Debüt Wolfskind, das von einem Ausgestoßenen erzählt, einem zwergwüchsigen Krüppel, der mühselig-langsam (durch hohe tierhafte Schreie hindurch) lernt, wie ein Mensch zu sprechen; für ihren dreibändigen Mammutroman Die Familie Adler, ein Epos von beinahe Balzac’schen Dimensionen, das mit der psychologischen Feinfühligkeit eines Marcel Proust zusammengewebt worden war; für ein gutes Dutzend ausgefeilter Novellen, für einen dicken Band mit Essays und endlich für ihr Alterswerk, das anspielungsreiche, anekdotenpralle, von Apercus durchsetzte Tagebuch einer Schriftstellerin, das Kennern als ihre reifste Leistung galt. Anne Frank tot!
Hinweis
Die große alte Dame der deutschen Literatur, die vergnügte, weise Nörglerin! Das war stark. Es war nachgerade wahnsinnig, aber schließlich befand sich jener B. auch in psychoanalytischer Behandlung.
    Nachdem alle Versammelten ihr amüsiertes Befremden zum Ausdruck gebracht hatten, sagte Kardinal Grausenburger: »Jetzt aber ohne Spaß – hätte die Vision von Tonis Patienten irgendwann einmal Chancen gehabt, Wirklichkeit zu werden? Hier, bei uns in Wien?«
    »Es ist doch eh alles Zufall«, stichelte Dr. Anton Wohlleben (seine Seckierereien waren mitunter wenig geistreich).
    »Nicht alles, aber manches«, gab Prof. Dr. Adolf Brandeis zu bedenken. »Wenn Napoleon nicht geboren worden wäre … Wenn Cleopatras Nase eine Spur kürzer, sie also nicht so schön gewesen wäre … Wenn Hannibal damals bei Zama gesiegt hätte …«
    Der Psychoanalytiker warf seine Hände in die Luft und meinte: »Also gut, ich kapituliere. Ihr beiden wollt euch jetzt in bunten Farben ausmalen, dass mein armer irrer Patient recht hat. Ihr wollt euch vorstellen, dass – quasi – der Blumentopf unserer Kultur vom Fensterbrett herunterkippt und der Menschheit auf die Glatze fällt. Meinetwegen, aber bitte: wie?«
    Sie überlegten hin, sie überlegten her – es wollte den drei Hofräten auch mit vereinten Kräften nichts Rechtes einfallen. Schon seit dem Ende des 19. Jahrhundertswaren die Mächte der Alten Welt

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