Der Komet
auch aus dem Rest der Welt: aus Paris, London und Berlin, kein Ton aus Delhi oder New York. Der Komet war mittlerweiledermaßen hell geworden, dass sein Schweif am Nachthimmel die Sterne überstrahlte. Tagsüber kam es bei bedecktem Himmel oft vor, dass er der Sonne die Schau stahl. Die meisten Wiener zogen es vor, den Weltuntergang in ihren eigenen Wänden zu erleben bzw. erdulden; ein paar, die es sich leisten und ein Visum ergattern konnten, waren allerdings geflohen – die meisten nach Amerika, einige sogar bis ins ferne Australien und nach Neuseeland. Dabei hatten die Fachleute ausdrücklich gewarnt: Kein Mensch würde verschont bleiben. Wer flüchtete, der verlängerte nur seine Pein.
Wenn wir gerade behauptet haben, Wien sei am Morgen des Weltuntergangs wie ausgestorben gewesen, so stimmt dies wohl für alle inneren, auch für die meisten äußeren Bezirke – indessen gab es eine bedeutende Ausnahme. Diese Ausnahme war Grinzing. In den Heurigenlokalen hätte der Flaneur keinen Sitzplatz mehr gefunden, die Menschentrauben wucherten unordentlich bis draußen auf die mit Kopfstein gepflasterten engen Straßen. Viele Tausend hatten beschlossen, ihre letzte Nacht auf Erden im Zustande des Vollrausches zu verbringen; und so kurz vor dem Ende bestand kein Schankwirt mehr darauf, dass die Gäste ihre Zechen bezahlten. Die Morituri schütteten darum ganze Teiche in sich hinein: Vergorenes von der Traube, vom Apfel und der Birne, auch Höherprozentiges wurde im Geiste der Brüderlichkeit herumgereicht. Wer sich den Heurigenlokalen schlendernd näherte, der hörte schon von Weitem einen wabernden Gesang aufsteigen: »Es werd a Wein sein und i werd nimmer sein.« Das entsprach zwar nicht den naturwissenschaftlichen Tatsachen (nach dem Einschlag des Kometen würde gar nichts mehr wachsen, auch kein Wein), aber es traf die Gemütslage der Singenden erstaunlich genau.
Wer nun im Frühtau – die Stimmen der Betrunkenenwurden hinter ihm immer schwächer – eine jener gewundenen Straßen erklomm, die aus Grinzing hinausführen, der stand schon bald auf dem Cobenzl, einem grünen Hügel vor den Toren von Wien. Vor sich hatte ein solcher Spaziergänger die schönste Aussicht auf die Haupt- und Residenzstadt; hinter ihm begannen schon die sanften Buckel des Wienerwaldes.
Nahe dem Gipfel des Cobenzl stehen vierzig Bäume verschiedener Sorten in einem weiten Kreis – angeblich hat jener Baumkreis magische Eigenschaften, es soll sich um ein uralt-keltisches Horoskop handeln. In Wahrheit dürfte sich eher ein Witzbold die Sache ausgedacht haben, was für Leute, die daran glauben, selbstverständlich kein Argument ist. Von größerer aktueller Bedeutung war, dass der Komet unweit von hier einschlagen sollte. Kurz vor neun Uhr würde er die äußerste Luftschicht der Erde durchbrechen; dann, so prophezeiten die Experten, würde er mit Schallgeschwindigkeit quer über den Himmel sausen und drei Minuten nach neun Uhr das Ziel seiner schrecklichen Reise erreichen. Wer auf dem Gipfel des Cobenzl stand, würde nicht viel zu leiden haben – außerdem herrschten an diesem Dienstagmorgen zufällig gute Sichtverhältnisse. Es hatte sich darum eine große Menge dort oben eingefunden: In dem Baumkreis und auf der weiten Wiese daneben standen Wiener aller gesellschaftlichen Klassen, aller Konfessionen, aller ethnischen Zugehörigkeiten, die man sich nur denken kann.
Sie standen da und schickten sich in das Unvermeidliche.
Die Lage war hoffnungslos, aber nicht ernst. Verzweiflung ist bekanntlich ein Luxusgut, das sich nur jene leisten können, die sich nicht in einer verzweifelten Lage befinden;wer dagegen bis zum Halse im Schlamassel steckt, wer keinen Ausweg mehr sieht, dem bleibt überhaupt keine Zeit zum Verzweifeltsein. Er hat Dringenderes zu tun (etwa: fluchen, beten, Witze reißen). Die Stimmung dort oben auf dem Cobenzl war darum beinahe ausgelassen. Eine kleine Kapelle – Tuba, Elektrogeige, Schlagzeug, Ziehharmonika, Bassgitarre – hatte ihre Lautsprecher aufgepflanzt; sie spielte jene Art von elektronisch verstärkter Zigeuner- und Balkanmusik, mit der das k. u. k. Reich künstlerisch längst die Weltherrschaft errungen hatte. Ein Dutzend Paare drehten sich auf der Wiese übermütig im Tanz. Eine kleine Tribüne war aufgebaut worden – denn hoher, ja allerhöchster Besuch hatte sich angekündigt. Doch das mochte ein Gerücht sein, niemand wusste Genaues. Um genau 8.20 Uhr aber hielten drei lange schwarz lackierte
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