Der Komet
Staatskarossen an der Auffahrt zum Cobenzl (die Welt hatte jetzt noch weniger als sechzig Minuten zu leben). Aus dem mittleren der drei schwarzen Elektromobile stiegen – nicht zu glauben! – Seine Majestät höchstselbst und seine ernst dreinblickende Gemahlin, eine Matrone mit grauem, einst blondem Haar aus dem Geschlecht der Romanows; der Kaiser führte zwei kleine Erzherzöge an den Händen, seine vier erwachsenen Kinder und die sieben kaiserlichen Enkel hatten sich auf die anderen Karossen verteilt und folgten ihnen nun nach. An diesem letzten Tag war naturgemäß keine Leibwache mehr nötig. Die Menschenmasse auf dem Cobenzl bildete ehrfurchtsvoll Spalier für die Hohe Familie, gemessen schritt sie zwischen ihren Untertanen hindurch zur Tribüne. Die Kapelle brach ihre fröhliche Tanzmelodie in der Mitte eines Taktes ab; und wie auf Kommando ließ sie jene sanft-feierliche, zutiefst unschuldige Melodie von Joseph Haydn erklingen, die nie einem anderen Land als Österreich-Ungarn gehört hat. Sowie der Monarch unddie Seinen die kaiserliche Tribüne erreicht hatten, erhob die Menge auf dem Cobenzl ihre tausendkehlige Stimme. Jeder kannte den Text seit seinen Schultagen auswendig:
Gott erhalte, Gott beschütze
Unsern Kaiser, unser Land!
Mächtig durch des Glaubens Stütze
Führt er uns mit weiser Hand!
Lasst uns seiner Väter Krone
Schirmen wider jeden Feind:
Innig bleibt mit Habsburgs Throne
Österreichs Geschick vereint.
Seltsamerweise hatten die Worte der Volkshymne nie wahrer geklungen als just in diesem Augenblick:
Lasst uns fest zusammenhalten,
In der Eintracht liegt die Macht;
Mit vereinter Kräfte Walten
Wird das Schwere leicht vollbracht,
Lasst uns, eins durch Brüderbande,
Gleichem Ziel entgegengehn!
Heil dem Kaiser, Heil dem Lande,
Österreich wird ewig stehn.
Unter den Singenden waren verschiedene Gesichter auszumachen, die uns womöglich bekannt vorkommen. Dort drüben etwa stand Thomas Biehlolawek, der herzensgute junge Mann mit den hellen Locken, der Alexej von Repin einst in den Salon von Barbara Gottlieb eingeführt hatte. Und wen hielt Thomas im Arm? War das nicht ein auffällig hübsches Mädchen? Wer erinnert sich noch an die blonde böhmische Bedienstete, die den Gästen von Barbara Gottlieb im charmanten Akzent der PragerKleinseite ein »Klaßerl Ssekt« angeboten hatte? Keine andere als jene; Jana hieß sie. Thomas hatte die blonde Böhmin schon vor Monaten nach allen Regeln der Kunst verführt, nun waren sie ein Paar.
Nicht weit von den beiden entfernt stand der rumänische Taxifahrer mit dem gewaltigen Schnurrbart, der Dudu Gottlieb einst so schlimm auf den Geist gegangen war. Innig umschlang er seinen Gefährten, einen langhaarigen jungen Mann mit Goldring im Ohr, den er gerade noch rechtzeitig vor einem kaiserlich-königlichen Standesbeamten geheiratet hatte. (In der österreichischen Reichshälfte gab es die Homosexuellenehe schon seit mehreren Jahren; in Transleithanien, wo die Moralvorstellungen altmodischer waren, würde sie nach Stand der Dinge nun nie eingeführt werden.) In der Mitte zwischen den Bäumen aber, die sich zum mystischen Kreis rundeten, war das Männlein zu erkennen, das Alexej aus dem Aufzug einst sein verschmitztes »Habe d’ Ehre« nachgerufen hatte: der vertrocknete kleine alte Mann hielt seine Schirmmütze zwischen den Händen und sang die Volkshymne lauthals mit. Ihm gegenüber stand mit offenem Mund ein junger Chassid – ebenjener fromme Jude mit den Korkenzieherschläfenlocken, den wir am Anfang dieser Geschichte in den Aufzug haben steigen sehen. Eigentlich dürften wir nun erwarten, zwischen den Singenden auch Kevork Bagradian zu erblicken – den Gesandten des Osmanischen Reiches, den Armenier mit den eindringlich-dunklen Orientalenaugen. Bagradian weilte zu dieser Stunde freilich gerade nicht auf dem Cobenzl. Seine Exzellenz saß vielmehr Tausende Kilometer entfernt auf der Terrasse seiner Familienvilla in Anatolien und leerte dortselbst ein großes Glas Raki – sein letztes – auf das Wohl des Sultans.
Außer ihm fallen uns noch verschiedene alte Bekannteein, die wir eigentlich auf jener Wiese vor den Toren von Wien vermuten würden; aber wir finden sie nicht, auch wenn wir den dunklen Menschenwald noch so aufmerksam durchmustern. Unsere drei Hofräte zum Beispiel – wo sind sie geblieben?
Dr. Anton Wohlleben hielt im Café Central die Stellung, dem einzigen Café, das selbstverständlich auch am Weltuntergangstag geöffnet hatte (und das
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