Der Kommandant und das Mädchen
ich Kraków und kehre vielleicht nie wieder hierher zurück. Ich habe meine Eltern bereits in jener Nacht ohne Abschied verlassen, als ich aus dem Ghetto entkam, ein zweites Mal kann ich das nicht über mich bringen.
Ich sehe wieder zur Uhr, dann mustere ich den Kommandanten, der tief und fest schläft. Krysia sagte, ich müsse um vier Uhr am Morgen wieder zu Hause sein. Von der Wohnung des Kommandanten ist es nicht weit bis zur Brücke nach Podgorze. Ich habe also noch genug Zeit, zum Ghetto zu gehen, falls ich den Mut dazu finde. Mein Entschluss steht längst fest. Leise verlasse ich das Bett, der Kommandant schnarcht und dreht sich zur Seite. Erschrocken bleibe ich stehen, da ich fürchte, dass er aufwacht und ich nicht von hier wegkomme. Doch er atmet gleichmäßig weiter, seine Augen sind geschlossen. In aller Eile ziehe ich mich an und gehe zur Tür.
Dort angekommen, drehe ich mich um und schaue den Kommandanten an. Es ist das letzte Mal, dass ich ihn sehe. Auf Zehenspitzen schleiche ich zurück zum Bett und muss mich davon abhalten, mich wieder zu ihm zu legen und ihn noch einmal zu umarmen. Traurigkeit erfüllt mich. Es gibt so vieles, was ich ihm sagen möchte. Ich möchte mich dafür entschuldigen, dass ich ihn getäuscht habe, dass ich für ihn nicht die Frau sein konnte, die er liebt, und dass ich wünschte, zwischen uns beiden hätte es anders sein können. Aber ich habe keine Zeit, um etwas zu bedauern. Ich beuge mich vor und hauche ihm zum Abschied einen Kuss auf die Stirn. Er regt sich nicht.
Im Wohnzimmer nehme ich meinen Mantel vom Stuhl. Als ich ihn anziehe, fällt mein Blick auf die Teller, auf denen noch Wurst und Käse liegen. Es wäre Verschwendung, dieses Essen einfach wegzuwerfen, also beschließe ich, es meinen Eltern mitzubringen. Aus der Küche hole ich einen Beutel, packe das Essen hinein und verlasse die Wohnung.
Die Straßen sind menschenleer, die Luft ist eisig kalt. Ich gehe zur Brücke, wobei ich mich immer im Schatten der Gebäude halte. Meine Nerven sind auf das Äußerste gespannt. Ich darf mich auf keinen Fall erwischen lassen. Schon bald bin ich am Ufer angelangt und überquere die Brücke.
In Podgorze ist kein Mensch unterwegs, doch ich weiß, dass die Gestapo überall lauern kann, um den festzunehmen, der sich im Dunkeln auf die Straße wagt. An der Ghettomauer angekommen, presse ich mich dagegen, um in der Finsternis mit ihr zu verschmelzen. Die Mauer scheint sich in beide Richtungen endlos weit zu erstrecken, und mit einem Mal will mich mein Mut verlassen. Vielleicht hatte Krysia doch recht, und es ist zu riskant.
Ich bewege mich langsam Schritt für Schritt an der Mauer entlang, bis ich einen Spalt ertaste, der nicht breiter ist als ein Brotlaib. Ich werfe einen Blick hindurch, doch auf der anderen Seite ist alles in Dunkelheit getaucht, die Straße ist verlassen. Ich erkenne, dass ich den Teil des Ghettos vor mir habe, in dem sich die leer stehenden Fabriken befinden. Hier werde ich mitten in der Nacht niemanden antreffen. Ich atme tief durch, um neuen Mut zu fassen, dann gehe ich weiter.
Nach einer Weile beschreibt die Mauer einen Knick, dort entdecke ich ein größeres Loch. Dahinter kann ich Wohnhäuser ausmachen, und ich erkenne, dass ich mich ganz in der Nähe des Hauses befinde, in dem meine Eltern leben. Doch auch diese Straße ist menschenleer. Das Ganze ist ein hoffnungsloses Unterfangen, überlege ich, während ich mich nervös umsehe, ob mich auch niemand bemerkt hat. Ich sollte besser gehen, bevor man mich erwischt. Aber das kann ich nicht tun, nachdem ich es schon bis hierher geschafft habe.
Einige Minuten später höre ich ein Kratzen von der anderen Seite der Mauer. Ich zwänge meinen Kopf durch das Loch und sehe nach links und rechts, so gut das geht, kann die Quelle für das Geräusch jedoch nicht ausmachen. Vermutlich war es eine Ratte, überlege ich enttäuscht. Doch dann ist es wieder zu hören, diesmal lauter und deutlicher. Ich schaue durch das Loch in der Mauer und entdecke einen alten Mann, der in meine Richtung über die Straße schlurft. Sein Rücken ist so krumm, dass man meint, er müsse bei jedem seiner winzigen Schritte vornüber fallen. Als er sich nähert, rufe ich ihn zu mir, weil ich ihn fragen will, ob er meinen Vater kennt. Dann halte ich mitten in meinen Rufen inne, kann den Mund aber nicht schließen. Der alte Mann …
ist
mein Vater.
“Tata!”, flüstere ich. Er hebt den Kopf, und eine schier endlose Zeit vergeht, bis ich
Weitere Kostenlose Bücher